Theresienstadt – ein geschichtliches, kulturelles und bedeutsames Denkmal. Aber muss man dort wirklich hin? Muss man wirklich das schöne, quirlige Prag mit seinen Cafés und kleinen Lädchen verlassen, um anderthalb Stunden durchs Nichts zu fahren, mit einem Busfahrer, der einen an der falschen Haltestelle heraus lässt und die Touristen mit einem freundlichen Schild darauf hinweist, dass er nicht mit Informationen füttert, kein Guide ist und kein Englisch spricht?
Warum also das fröhliche Prag verlassen, um an einen Ort zu fahren, wo Menschen jüdischer und nicht-jüdischer Herkunft gequält wurden, die eine politische „Gefahr" für die Nazis darstellten? Aber – im Schlepptau meiner Familie war ich dort, wenngleich mit einigen Problemen, das KZ zu finden, da wir uns erst mal durch den Ort Theresienstadt schlängeln mussten. Kein Schild, kein Pfeil, nur ein türkisches Pärchen, zwei Italienerinnen, ein jüdischer Pole, meine Familie und ich. Bewaffnet mit Google Maps sind wir dann durch diese Geisterstadt getappt – keine Menschenseele, kein Geschäft, nur wir neun Touristen aus den verschiedensten Ländern. Von den 2000 Menschen, die dort wohnen, haben wir nur ein altes Paar gesehen, das uns auch noch in die falsche Richtung gewiesen hat.
Theresienstadt war früher eine Garnisonsstadt, in der 7000 Menschen wohnten. Dann, als die Nazis an die Macht kamen, wurden dort 59 000 Juden hineingepfercht – mehr als acht Mal so viele. Dies wurde nun „Ghetto Theresienstadt" oder „die große Festung" genannt. Die unfreiwilligen Einwohner
wussten jedoch ganz genau, dass sie nach einer bestimmten Zeit in ein Vernichtungslager kamen, um dort vergast zu werden. Das wussten die Alliierten jedoch nicht – die Nazis hatten einen Propagandafilm gedreht mit dem Titel „Die geschenkte Stadt". In die „kleine Festung", das Arbeitslager Theresienstadt, kamen nur politische Gefangene, das heißt politische Gegner des Dritten Reiches.
Einzelzellen im Arbeitslager ähneln Schuhkartons
Nun ja, nun aber zurück in die Gegenwart, ins Jahr 2017. Die neun Reisenden haben nach lauter Umwegen zur „kleinen Festung" gefunden. Sie sieht aus, wie man es sich vorstellt: Große Wälle und tiefe Gräben, kahle Gemeinschaftszellen und Einzelzellen, die einem Schuhkarton ähneln. Das hinterlässt schon einen Eindruck, wenn man sich vorstellt, dass dort, wo man steht, früher ausgemergelte, kaum noch lebende Menschen gestanden haben. Nachdem wir uns die Räumlichkeiten angeschaut hatten, schlossen wir uns einer Führung an, die einem nochmal die Sprache verschlug. In einem Raum, der so groß ist wie ein Klassenzimmer, wurden 70 Männer eingesperrt – und mit 20 Leuten in einer Klasse ist es schon ganz schön gefüllt. Als einzige Einrichtung wurde ein Eimer bereitgestellt – für 70 Leute reichte der ganz sicher nicht. Am Ende des Krieges herrschte so großer Platzmangel, dass man in eine Gemeinschaftszelle, die ungefähr so groß ist wie zweieinhalb Klassenzimmer, 600 Männer hineingestopft hat – mit zwei Toiletten und zehn Waschbecken. Man kann sich ja vorstellen, wie das gestunken haben muss. Im Verwaltungsgelände, wo die Leute antreten mussten, um ihrer Arbeit zugeteilt zu werden, hing ein großes Schild, mit der provozierenden Aufschrift „Arbeit macht frei".
Natürlich waren die sanitären Bedingungen katastrophal: Die Leute durften sich nur einmal im Monat für drei bis fünf Minuten duschen. Die völlig verdreckte, verlauste und verschwitzte Gefangenenkleidung wurde gar nicht erst richtig gesäubert, sie wurde nur kurz in eine Röhre mit Wasserdampf geschoben. Nach dem Duschen mussten sie wieder alle ihre feuchte Kleidung anziehen. Abtrocknen durften sie sich nämlich nicht. Während sich unsere Führung dem Ende neigte, bekam ich langsam Hunger – und dachte an den Hunger der Häftlinge. Man hat ihnen nicht ansatzweise genug zu essen gegeben. Eine Schikane: Ihre Pakete, die ihnen Freunde und Familie zuschickten, wurden nicht ausgeliefert, sondern alle zusammen verkocht. Allerdings waren in diesen Paketen nicht nur Mahlzeiten, sondern auch Seife, Zigaretten, Medizin... Diesen „Eintopf" zwang man die Menschen zu essen.
Was das Leben der Aufseher anging, hatten diese es sehr schön. Sie hatten ein riesiges Haus, in dem ihre Familie lebte, einen Kinosaal und ein Schwimmbecken. Während im Garten die Kinder der Aufseher spielten, wurden zwanzig Meter weiter Menschen erschossen, die versucht hatten zu fliehen. Von 140 000 Häftlingen haben es nur drei geschafft.
Macht es nun Sinn, sich so etwas Schlimmes anzugucken? Ich finde, das tut es. Solange man nur darüber liest, bleibt es eine Geschichte neben anderen, weil es zum einen weit in der Vergangenheit liegt, und man nur ein vages Bild in seinem Kopf hat. Wenn man wirklich da steht, wo vor 73 Jahren Gefangene misshandelt wurden, spürt man: Das war real, nicht nur irgendeine Erzählung aus der staubigen Vergangenheit.