Aussicht durchs Handy

Lisbeth, 12e, RBZ am Königsweg 19. November 2020
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Gestern Abend, als Jill durch ihre pictures of the day scrollte, fiel ihr auf, dass ihr Tag
schlecht gewesen war. Sie hatte ein wunderbares, langes, aufschlussreiches Gespräch mit ihrer Großmutter geführt, die Jill besucht hatte. Nun fand Jill aber kein geeignetes Bild,
das sie auf allen möglichen Social Media Plattformen posten könnte, um positive Resonanz zu erlangen.

Sie und viele andere Menschen meiner Generation sind süchtig nach Bestätigung über Medien und nach der daraus folgenden Stärkung des Selbstwertgefühls. Viele Aktivitäten werden also nur für eben diese Bestätigung und den Anklang unternommen:

So kauft Jill, um ihr selbstgebackenes, zuckerfreies, natürlich veganes Bananenbrot zu
verzieren, crunchy Bananachips, die pro 100 Gramm fünf Euro kosten. Naja, immerhin ist
das Etikett schön. Für sie hat sich die völlig unnötige Investition jedoch gelohnt, als sie auf
ihrem Bananenbrotpost unglaublich viele Likes zählt und sogar 20 Rückfragen nach dem
Rezept erhält. Nach einem solch erfolgreichen Post kann Jill sich selbst auf die Schulter
klopfen und beruhigt, beseelt ins Bett gehen.
Am nächsten Tag macht Jill einen Ausflug zu einem Aussichtsturm. Sie packt ihre Tasche.
Handy, zuckerfreien Bioeistee und eine Powerbank mit Kabel. Nun steigt sie in ihr Auto und fährt den Wanderweg entlang bis zum Turm, steigt die Stufen hinauf, schießt ein paar Fotos und fährt daraufhin nach Hause. Dort angekommen postet sie eines der Bilder, natürlich bearbeitet, und schreibt als Bildunterschrift ,,enjoying the great view''. Dabei merkt sie aber nicht, dass sie, wegen des Plans das Foto passend zu dem Algorithmus von Instagram und Co zu posten und es für ihre tägliche Dosis positiver Rückmeldung hochzuladen, vergessen hat, die tolle Aussicht wirklich und in echt zu genießen. Das Verlangen nach Bestätigung schlägt also nicht nur in das Portemonnaie, sondern verwehrt uns auch, schöne Momente echt zu erleben, frei, ganz ohne Druck, Sorge und Hintergedanken.
Am Abend trifft Jill sich mit ihren Freundinnen. Hauptsächlich verbringen sie die Zeit damit,
Fotos von- und miteinander zu machen und sie später zu bearbeiten. Je strahlender der
Filter, desto mehr Likes und Kommentare ist die Devise. Sie sprechen darüber, auf welchem Bild sie alle am besten aussehen und ob der Exfreund von Lena das Foto liken würde. Dass Lena aber sehr Liebeskummer hat, dass Jill sich schön mit ihrer Großmutter unterhalten hat und dass Thildas Tante eine Woche zuvor ein Kind bekommen hat, darüber sprechen sie nicht.
So führt die von mir beschriebene Sucht nach Steigerung des Selbstwertgefühls und der
Anerkennung auch noch dazu, dass Freundschaft immer weniger Tiefe und Sensibilität
füreinander, aber umso mehr Postings und gute Resonanz beinhaltet, aber ist das wirklich
die Verständnis von Freundschaft, das wir haben wollen?
Da das Leben scheinbar immer mehr und mehr virtuell stattfindet und das Streben nach Referenz in den Medien der Zwischenmenschlichkeit den Tiefgang raubt, stellt sich die Frage, was Jill oder ich oder du, kurz wir alle, ohne das Internet, Handys, Laptops und so weiter tun würden und was sich ändern würde.

Jill zum Beispiel würde vielleicht endlich wieder die Gespräche mit ihrer Großmutter genießen und aus ihnen eine innere, wertvolle Stärkung des Selbstwertsgefühls zu erlangen, und du?

 

 

 
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