Wer denkt an die Kinder?

Marlene Schütze WPU Medienpraxis am Gym. Lütjenburg 19. November 2021
Manchmal ist es nicht wie es scheint. Kinder und Jugendliche werden seit dem ersten Lockdown vermehrt in häuslichen Umgebungen geschlagen und misshandelt. © child-abuse-6570086_1280.jpg (1280×853) (pixabay.com)

Wie Corona häusliche Gewalt verstärkt.

Ein Kommentar von Marlene Schütze 


160.000 mal wurde im letzten Jahr hinter verschlossenen Türen geprügelt oder Gewalt in anderer Art und Weise in Deutschlands Haushalten ausgeübt, 160.000 Straftaten die offiziell durch deutsche Behörden registriert wurden. Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiß niemand. Wie viele Fälle niemals zur Anzeige gebracht werden, weil sich Opfer nicht trauen, Nachbarn sich nicht einmischen wollen, Ämter sich nicht zuständig fühlen oder einfach weggesehen wird, ist schwer zu schätzen. Sicher ist wohl nur eins, die Dunkelziffer wird erschreckend hoch sein.


Im vergangenen Jahr ist die Anzahl der polizeilich registrierten Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt um 6% gestiegen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Technischen Universität München erkennen dabei in ihrer Studie einen Zusammenhang zwischen den Lockdownmaßnahmen wie Social-Distancing, Ausgangssperren, Schließung von Schulen oder das Verbot von Vereinssport und der Zunahme häuslicher Gewalt. Kinder und Jugendliche betrifft dies nun gemäß der Studie im zunehmenden Maße.


Durch den Ausfall des regulären Schulbetriebes und sonstiger Freizeitaktivitäten, wie beispielsweise Fußball, Tanzen und Skaten, brachen für Kinder und Jugendliche wichtige soziale Kontakte weg. Außerfamiliäre Bezugspersonen und Vertraute waren nicht mehr ansprechbar. Dadurch blieben mögliche äußerliche Anzeichen von Gewalt unbemerkt.
Mit dieser bekannten Tatsache müssen sich die Politik und wir uns als Gesellschaft intensiver auseinandersetzen. Sonntagsreden und Betroffenheit von Seiten der Erwachsenenwelt helfen nicht, Kinder und Jugendliche vor häuslicher Gewalt zu schützen. Besonders auffällig ist hierbei, dass die Auswirkungen der Pandemiemaßnahmen auf Kinder und Jugendliche kaum thematisiert werden, wo hingegen Coronafälle in Bundesligamannschaften die Titelseiten bestimmen.


Worin liegen die Gründe für zunehmende Aggression und Gewalt besonders gegenüber Kindern und Jugendlichen innerhalb familiärer Beziehungen?


Aufgrund der aktuellen pandemiebestimmten Situation stehen viele Menschen aller Altersklassen unter hohem Stress und stärkerer Anspannung. Seit dem Beginn der Pandemie ist die Anzahl der Entlassungen und der Kurzarbeit deutlich gestiegen. Jugendliche, welche sich z. B. 2019 in Berufsausbildungen befanden, brachen diese zu 26,9% ab. Dies verstärkt mitunter Frustration und Zukunftsängste und kann unter ungünstigen Bedingungen auch bei den Jugendlichen in Aggression und Gewalt übergehen.
Dass vor allem Minderjährige schon vor der Pandemie oftmals unter schulisch bedingten Stress litten, ist ebenfalls länger bekannt. Auch dieser ist durch das Homeschooling gemäß Aussage vieler Schülerinnen und Schüler gestiegen und bleibt auch hier in der häuslichen Umgebung. Laut Professor Dr. Julian Schmitz vom Institut für Psychologie der Universität Leipzig haben „Psychische Belastungen wie Depressionen, Angststörungen, aber auch expansive Verhaltensstörungen [...] sehr deutlich zugenommen - sowohl in Deutschland, als auch international." Gründe hierfür können die radikale Änderung der gewohnten familiären Tagesabläufe aufgrund der Schulschließungen und Homeoffice, fehlende soziale Kontakte aufgrund der Beschränkungen sowie ausbleibende mentale und körperliche Ausgleichsmöglichkeiten sein.


Pandemiebedingte Entlassungen und Kurzarbeit führten bei vielen Menschen zu zunehmend finanziellen Nöten. Die oftmals daraus resultierenden Existenz- und Zukunftsängste sind nach den Münchner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch eine mögliche Ursache für zunehmende Aggression.


Im ersten Lockdown im April 2020 arbeiteten 27% der Beschäftigten in Deutschland von Zuhause aus. Zum Vergleich: Vor der Pandemie waren es circa 4%. Viele Menschen fanden sich plötzlich in einer ungewohnten Arbeitssituation wieder, mussten zusätzlich ihre Kinder betreuen und Lehrerin oder Lehrer ersetzen. Dies belastete viele Eltern zusätzlich und kann ein weiterer Grund für die Zunahme der registrierten Gewalttaten innerhalb von Familien sein.


Dass sich oftmals sämtliche Familienmitglieder dauerhaft Zuhause befanden, war für viele eine völlig ungewohnte Situation. Es gab wenig Abstand oder Privatsphäre. Bei Familien, in welchen vorher bereits Konfliktpotential zu erkennen war, verschlimmerte sich diese belastende Situation.


Die Anzahl der polizeilich registrierte sexualisierten Übergriffe auf Kinder stieg um 1000 auf fast 17.000 Fälle. Bei den vom Bundeskriminalamt erfassten Fällen von verkaufter Kinderpornographie gab es einen erschreckenden Anstieg von 53%.


Wer übernimmt hierfür die Verantwortung?


Wer die Verantwortung übernimmt, ist wohl leicht zu beantworten. Vermutlich niemand. Denn bald wird die Große Koalition, welche im Frühjahr des letzten Jahres regierte, nicht mehr in Amt und Würden sein. Die zukünftige Regierung wird sich üblicherweise darauf berufen können, dass sämtliche Maßnahmen durch die vergangene politische Führung beschlossen wurde, obwohl beispielsweise die SPD bereits mitregierte und alle Oppositionsparteien im Bundestag den Maßnahmen zustimmten. Selbst wenn jemand die Verantwortung übernehmen sollte, bringt das den Kindern und Jugendlichen nichts mehr.


Waren die Folgen der Maßnahmen für Kinder und Jugendlichen absehbar? Wurden Psychologen, Pädagogen, Soziologen und Therapeuten überhaupt gefragt?


Das Thema häusliche Gewalt ist bekannt. Ihre Ursachen und Folgen für die Betroffenen sind seit Jahrzehnten erforscht. Dass sich starke Einschränkungen des sozialen Lebens nur negativ auswirken können, dafür muss man wahrlich kein Experte sein. Ob Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler abseits der Virologie angehört wurden, weiß ich nicht, ist aber stark zu bezweifeln. Zu wenig Rücksicht wurde auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen genommen. Zumal bekannt ist, dass Minderjährige ein geringes Risiko einer schweren Covid-Erkrankung haben, ist es umso unverständlicher, wie diese Maßnahmen so bedenkenlos in Kraft treten konnten. Sollte es nicht die Pflicht einer verantwortungsvollen Regierung, die immer betont, dass Kinder und Jugendliche die Zukunft dieses Landes sind, sein, deren Bedürfnisse besonders zu berücksichtigen? Diese Frage ist natürlich rein rhetorisch. Verantwortliche müssen selbstverständlich die Standpunkte verschiedener Expertinnen und Experten aller Bereiche in ihre Entscheidungen einbeziehen. Mitunter wird dies auch getan. Dem BMG und BMFSFJ ist bekannt, dass Minderjährige eine große Belastung durch die Maßnahmen erleiden, obwohl junge Menschen ein geringes Risiko haben, schwer zu erkranken. Deshalb stellt sich die Frage, warum trotzdem gegen die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen entschieden wurde.

Was kann jeder Einzelne tun?
Zuerst kann man sich eingestehen, dass es in unserer Gesellschaft ein Problem mit häuslicher Gewalt gibt und dieses durch die pandemiebedingten Maßnahmen verstärkt wurde. Die meisten Folgen werden vermutlich erst in einiger Zeit sichtbar und noch zukünftige Generationen begleiten. Ersetzen wir Social-Distancing doch lieber durch soziale Nähe und fragen wieder „Wie geht es dir?".
Das Thema häusliche Gewalt wird in den Medien kaum erwähnt und von der Politik ebenfalls wenig behandelt. Die Schlagzeilen werden größtenteils durch die Pandemie, Wirtschaft und Fußball bestimmt. Die Probleme der Kinder und Jugendlichen und Familien werden hierbei viel zu wenig thematisiert. Es bedarf mehr Menschen mit Einfluss, die dieses Problem zum Thema machen, sodass die Politik nicht länger ihre Augen davor verschließen kann. Darauf zu warten, dass die Politik etwas ändert, reicht alleine nicht aus. Jeder ist aufgefordert, hin und nicht weg zu schauen, wenn Kinder und Jugendliche zu Opfern werden. Denn aus Opfern, denen nicht geholfen wird, können die späteren Täter werden.
Die beste Gewaltprävention ist eine friedliche Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird, wie er ist und jede Person als Teil der Menschheitsfamilie wahrgenommen wird, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Bildung, Einkommen, Sexualität und Einstellung und Überzeugung.
Auch wenn Corona irgendwann vorbei sein sollte, wird das Thema häusliche Gewalt nicht verschwinden. Es ist dann an uns, die Lehren aus dieser schwierigen Zeit zu ziehen, um es in der Zukunft besser zu machen.

 
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