Corona als Verstärker für psychische Krankheiten?!

Vivien Scholl, Medienpraxis, Gymnasium Lütjenburg 14. November 2022 3 Kommentar(e)
©

„Corona hat uns alle psychisch zerstört." „Raus gehen? Lieber nicht, bei den ganzen Sozialkontakten..."„Ich wünschte ich könnte weiter Homeschooling machen. Immer alleine sein, war so entspannt."
„Wer findet sich wieder im #TeamSocialAnxiety?"

Seit der Corona Pandemie scheinen psychische Krankheiten und Ängste von Jugendlichen immer mehr im Fokus der Gesellschaft zu stehen.
Plötzlich wirkt es, als hätte fast jede Person in unserem Alter soziale Einschränkungen und wäre nicht mehr fähig, den Alltag von vor der Pandemie wieder aufzunehmen.
Von Depressionen, Angststörungen und Süchten ist die Rede.
Doch stimmt das? Hat Corona der Psyche der Menschen nachhaltig geschadet?
Und was hat das Ganze mit der Gesellschaft zu tun?

In der Tat hat das statistische Bundesamt dieses Jahr veröffentlicht, dass der häufigste Behandlungsgrund für 15 - 24 Jährige die sogenannte "depressive Episode 2022" war, also eine Episode, die mit Coronaquarantänen und Lockdowns in Verbindung gebracht wurde.

In den letzten Jahren hat sich die Zahl an stationären Behandlungen aufgrund von psychischen Erkrankungen stark verändert. Während 2019 noch 780.000 vollstationäre Behandlungen durchgeführt wurden (Quelle: Factsheet_Kennzahlen der DGPPN), waren es 2020 deutlich weniger aufgrund der Unterbringungsschwierigkeiten durch die Vielzahl der Corona Erkrankten, 2021 gab es wieder einen Aufstieg zu 2019 mit 803.979 Patienten und Patientinnen (Statistisches Bundesamt).

So hielt auch eine von mir befragte Diplomsozialpädagogin fest: „Naheliegende Gründe für diesen Anstieg sind zum Beispiel von Corona verfestigte und hervorgerufene Existenzängste, Soziale Isolation und ihre Folgen - also zu wenig Lob, Gemeinschaft und Rückmeldung - sowie ganz einfach der hohe Medienkonsum, gestörte Schlafrythmen und Bewegungsmangel. Familiäre zuvor entstandene Probleme werden nun auf engem Raum immer deutlicher..."

Doch war wirklich Corona der Grund? Haben Isolation und und der größere Gebrauch von Medien die Krankheiten ausgelöst?

Könnte es nicht sein, dass durch Corona nur bemerkt wurde, dass da vorher schon Probleme bestanden und Auffälligkeiten eine andere Aufmerksamkeit bekamen?

Schließlich mussten Schulen ihr System umstellen, Arbeitsplätze sich verändern und das soziale Miteinander einen neuen Weg einschlagen.
Viele unentdeckte Schwierigkeiten wurden deutlich unter dieser neuen Situation.
Doch wenn es stimmt, was hat sich dann bei der Aufmerksamkeit genau geändert?

Ich habe für mich ein paar Corona unabhängige Beobachtungen verknüpft:

Der wohl deutlichste Punkt ist für mich der Personalmangel an Schulen.
Viele Probleme der Jugendlichen sind vermutlich schon vor der Pandemie da gewesen, ihnen wurde nur zu wenig Achtung geschenkt.


-> So kann es als Folge leicht geschehen, dass Jugendliche zwar nach Hilfe fragen, aber nicht ernst genommen werden.
Solange sie sich an Absprachen und Regeln in der Schule halten, werden sie nicht unterstützt. Ein ehemaliger Schulsozialarbeiter sagte mir hierzu:
„Erst wenn jemand Abläufe stört und damit das System sprengt, wird diese Person und ihre Einschränkungen im System Schule von Erwachsenen als Probleme wahrgenommen."

Wer gute Noten schreibt und höflich bleibt, kann ja auch keine nennenswerte Probleme haben, oder?!

So ist es in meinem Umfeld passiert, dass einer betroffenen Schülerin von Lehrern vorgeworfen wurde, sie sei zu sensibel, weil es sie kränkte, dass Klassenkameraden bzw. Klassenkameradinnen von einander verboten wurde, mit ihr zu sprechen und sie anzusehen. Ihre Noten wären doch gut, sie und ihre Eltern würden auf hohem Niveau jammern. Andere hätten da viel größere Probleme.

So etwas kann passieren, wenn die unterbesetzten schulischen Teams oft nur mit „Feuerlöschen" bei aktuellen Störfällen ausgelastet sind.

Durch das Online Schooling mussten sich die Lehrer zusätzlich neu überlegen, wie sie die Schüler erreichen.

Sie mussten neu denken und hatten aber keine Zeit, sich neu entdeckten sozialen Fehlerquellen zu widmen, da sie auch erst mal neues lernen mussten.

Lehrermangel scheint also gerade in diesen Zeiten sehr verheerend gewesen zu sein und wurde auch dann erst für die Öffentlichkeit langsam sichtbarer.

Viele Jugendliche, egal in welchem Alter, haben auf harte Weise erfahren, was passiert, wenn in der Schule niemand genug Zeit hat, um Gruppendynamik wirksam zu durchschauen und zu begleiten. Wenn gleichzeitig die Eltern Pandemie bedingt abgelenkt und nicht verfügbar waren. Und rationale also begründete Ängste und Sorgen sich verselbständigen.

Man sagt unserer Generation, wir haben alle Möglichkeiten, alle Türen stehen uns offen. Aber wer nimmt sich viel Zeit, uns zu begleiten?
Aus meiner Sicht ist dies schon lange ein Problem und COVID 19 hat es auf den Tisch gebracht.

 Also ist hier meine Bitte:

• Liebe Gesellschaft, habt mehr Geduld und mehr offene Augen. Jugendliche brauchen positive Rollenbilder, um zu lernen.

• Liebe Lehrer, schaut bitte über euren Unterrichtsstoff hinaus und seht uns Jugendliche als Menschen. Auch wenn wir unauffällig sind, kann es sein, dass es uns nicht gut geht.
Gebt uns Aufmerksamkeit, auch wenn wir nicht destruktiv sind. Denn sonst wenden sich Aggression und Schmerz nach Innen und das macht junge Menschen kaputt.
Rechnet nicht damit, dass wir Dinge unter uns ausmachen, denn natürlich setzen sich dann die Stärksten durch.

• Lieber Staat, bitte macht etwas gegen den Personalmangel. Gebt uns an Schulen genug Erwachsene, die uns begleiten. Schränkt damit die Räume ein, in denen Mobbing sich verbreiten kann. Unbeaufsichtigte Zeiten sind die Momente, in denen die Opfer von Mobbing leiden.

Gebt den Schulteams mehr Chancen, sich noch genauer mit diesen Themen auseinander zu setzen.
Unterstützt noch mehr junge Lehrkräfte, ohne sie wird es auch weiterhin Fachkraftmangel geben.

• Lieber Leser, liebe Leserin, bitte gib/geben Sie nicht Corona die Schuld an allem, sondern suche/n Sie nach den wirklich Ursachen.

 
3 Kommentar(e)
  1. Ida Marie Bastian
    24. November 2022

    Hallo Vivien, ich finde deine Abhandlung zu dem Thema sehr interessant. Es wirkt differenziert und ausführlich. Auch dein Aufruf am Ende genauer nach Gründen für psychische Probleme zu suchen, als nur Corona alle Schuld zu geben finde ich gut LG Ida
  2. El Gaso
    24. November 2022

    Ein sehr wichtiges Thema, dass in Zusammenhang mit Corona und den Maßnahmen viel zu selten betrachtet wird und wenn es betrachtet wird , dann nur von älteren Menschen. Dieser Artikel vermittelt, meiner Meinung nach, ein sehr wichtiges Thema. Liebe Vivien. Es braucht mehr solcher jungen Menschen, die das Problem so gut auf den Punkt bringen.
  3. Jens
    24. November 2022

    Wow, Hut hab. Super Artikel. Auch wenn meine Schulzeit schon 40 Jahre zurück liegt, stimme ich Dir voll zu und sehe die Probleme und Ihre Ursachen genau so. Sehr differenziert und von vielen Seiten betrachtet. Gerne mehr davon.

Kommentar schreiben

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert