Die Flucht ins neue Leben

Anton Winkler 18. November 2022

Kiel/Wik. 33 Jahre nach dem Mauerfall treffe ich die 47-jährige Sandy aus dem Kieler Stadtteil Wik, die damals am 25.9.1989 mit ihrer Mutter aus der DDR floh.

Heutzutage lebt sie ganz normal mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in einem kleinem Haus, bei dem man nicht auf den Gedanken kommen könnte, dass es eine so aufregende deutsch-deutsche Lebensgeschichte beherbergt.

In ihrem Wohnzimmer, in dem man auf den ersten Blick nichts von der DDR zu sehen bekommt, sieht man auf den zweiten Blick unter den weißen Schränken und braunen Regalen viele alte Kisten und Koffer, die nach recht altem Papier riechen, in denen Erinnerungen aus den DDR-Zeiten vor und nach ihrer Flucht sind, wie zum Beispiel Bilder, alte Puppen, emotionale Abschiedsbriefe, Poster von Sängern und Sängerinnen oder ihre Pionierausweise, die damals jedes Kind in der DDR besitzen musste. Sie zeigt sie alle und liest auch daraus vor.

Sandy hat insgesamt zwei Pionierausweise. Den ersten Ausweis bekam sie in der 1. Klasse, so dass sie ein Jung-Pionier war. Ab der 5. Klasse kam man zu den Thälmann-Pionieren. In der 8. Klasse wurden alle Schülerinnen und Schüler in die Freie Deutsche Jugend aufgenommen.

Bei einem der drei Bilder, die an der polar-weißen Wand hängen, sieht man Sandy mit ihrer Mutter in Karl-Max-Stadt, dem heutigen Chemnitz, vor ihrem dunkelbraunen Trabi stehen, der von der Mittagssonne an manchen Stellen des Farbfotos stark reflektiert.

Es sind die Plattenbauten im Fritz-Heckert-Gebiet von Karl-Max-Stadt, die am 23.9.1989 von der aufgehenden Sonne beleuchtet werden. In der Wenzel-Verner Straße 83 klingelt um 5 Uhr morgens bei der Familie K. im Wohnzimmer, auf einem kleinen, braunen Tisch, das orangene Telefon, das Frau K. abnimmt. Am Telefon spricht ihr Mann, der 5 Tage zuvor ein 2-wöchiges Visum für die Bundesrepublik Deutschland bekommen hat. Er spricht den folgenden Satz:„Ich hab mir mein Bein gebrochen“! Das Codewort, da damals alle Telefone im Osten abgehört wurden. Jetzt heißt es, dass er im Westen eine Arbeit gefunden hat und ab jetzt illegal im Westen bleiben möchte.

Sofort packen Frau K. und die damals 13-jährige Sandy ihre Sachen. Sie geht an jenem Tag zum letzten Mal in die Schule und darf keiner ihrer Freundinnen davon erzählen, dass sie morgen nicht wieder kommen wird. Nach der Schule kommt Sandy schweren Herzens in ihre Wohnung in der Wenzel-Verner-Straße zurück und packt ihre restlichen Sachen, die nur aus Sommerklamotten, einem Kopfkissen, einer Wolldecke und ihrem Hund Benji besteht. Um 14:30 Uhr klingeln ihre Freundinnen nichts ahnend an der Wohnungstür, die Sandy aufmacht und mit weinenden Augen vor ihnen steht. Sie wissen durch ihren Geichtsaudruck und ihre Tränen sofort, dass sie flüchten will, und versprechen ihr, es niemandem zu verraten.

Abends steigt Sandy mit ihrer Mutter in den dunkelbraunen Trabi. Die fahren zu einer Minol-Tankstelle, wo sie sich mehrere Benzinkanister befüllen. Die Kassiererin meint dabei sakastisch: „Wer so viele Benzinkanister auffüllt, will doch bestimmt in den Westen abhauen.“ Mit schweißgebadetem Gesicht, trockenem Hals und großer Angst, dass die Stasi gerufen wird und so Sandy ins Kinderheim und ihre Mutter ins Gefängnis muss, verladen sie die ganzen Kanister im Kofferraum und fahren Richtung tschechische Grenze.

Während unseres Interviews bekommt Sandy plötzlich einen kleinen Lachanfall und outet sich, dass sie damals kurz vor der tschechischen Grenze ihre erste Zigarette rauchte. Nach ihrer ersten Zigarette und auch heute noch, erzählt sie, sei sie “militante Nichtraucherin“, da sie es bis heute bereut, überhaupt nur einen Zug probiert zu haben.

Nach zwei Stunden erreichen sie endlich die tschechische Grenze, wo sie mehrere maskierte Soldaten mit Pistolen und Maschinengewehren erwarten, die Sandy und ihre Mutter mit auf sie gerichteten Waffen aus dem Trabi ziehen, um ihn zu durchsuchen. Darauf waren Sandy und ihre Mutter von Anfang vorbereitet, so dass sie so wenig Gepäck wie möglich mitgenommen haben, damit es wie ein normaler Urlaub durch Tschechien nach Ungarn aussehen würde. Die Soldaten ließen sie mit immer noch gehobenen Waffen wieder in den Trabi steigen.

Nach dem Schrecken gelangen sie nach drei Stunden Fahrt in einen kleinen Ort, wo sie in einer Pension die Nacht über schlafen. Am nächsten Morgen geht die Fahrt weiter Richtung Ungarn. Angekommen bei der ungarische Grenze werden sie von dem dort stehenden Zoll durchgewinkt und können ihre Fahrt erstmals ohne Probleme nach Österreich fortsetzen. Nach mehreren Stunden fahrt, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlt, geraten sie zwei Kilometer vor der österreichischen Grenze in einen langen Stau. Alle kommen gerade aus dem Urlaub, helfen Flüchtenden oder flüchten selber.

Das einzige, was Sandy und ihrer Mutter auffällt, ist, dass sie weit und breit die einzigen sind, die mit einem Trabi, also mit einem ostdeutschen Auto fahren. Als nach mehreren Stunden im Stau endlich Sandy und ihre Mutter mehrere Meter vor der Grenze stehen, passiert etwas Furchtbares. Alle Autos vor ihnen werden durchgehend durchgewinkt. Nur bei dem Trabi, in dem Sandy mit ihrer Mutter sitzt, winkt ein Zollbeamter sie aus der Reihe und fordert sie auf, in das Zollhäuschen zu gehen.Die wenigen Schritte in das Zollhäuschen waren für uns die schwersten, die wir je in unserem Leben gehabt haben,“ sagte Sandy . „Uns war in diesem Moment bewusst, dass es an den letzten paar Metern scheitern wird!“ Im Zollhäuschen saß ein Zollbeamter, der sie bat, sich auf die braunen Holzstühle zu setzten. Mit wackligen Beinen und verschwitztem Gesicht setzten sie sich.

Sind es die letzten Minuten, die Mutter und Tochter zusammen verbringen können? Gefängnis und Kinderheim? Der Mund des Zollbeamten öffnet sich langsam, nachdem er einen Schluck heißes Wasser aus seiner Thermoskanne trinkt und mit einer alten Raucherstimme sagt: „In drei Kilometern kommt eine Ausfahrt Richtung Salzburg, die ihr nutzen könnt, um euch dann im nächsten Ort ein Hotel zu suchen.“

Ein großer Stein fiel beiden vom Herz, als sie das hörten. Er drückte ihnen einen Gutschein für ein österreichischen Restaurant in die Hand und forderte sie lieb auf, wieder in ihren Trabi zu steigen und weiterzufahren. Geschafft,“ war das erste, was Sandy sagte, nachdem sie von der Grenzüberschreitung nach Österreich gesprochen hat.

Die nächsten zwanzig Minuten verliefen durchgehend im Stau, bis neben ihnen ein weißer Golf stand, dessen Fahrer ihnen den Rat gab, hinter ihm herzufahren. Der Fahrer des Golfes war Flüchtlingshelfer, der hinten im Wagen einen jungen Mann aus Ungarn sitzen hatte. Die nächste Ausfahrt Richtung Abetzberg nimmt der weiße Golffahrer, worauf Sandys Mutter auch den Rechtsblinker aktiviert und auf die Ausfahrt fährt. Nach einer Stunde Fahrt kommt die Erlösung. Ein blaues Schild mit der Aufschrift „BRD“.

Bundesrepublik Deutschland!

Sie haben es endlich geschaft. In zwei Tage durch vier Länder gefahren. Das ist die Belohnung: Freiheit! Doch nach nur sechs Minuten macht der Trabi plötzlich ein lautes Geräusch und bleibt stehen. Sandys Mutter schaut sich erst einmal verzweifelt die Motorhaube an, doch das einzige, was sie zu spüren bekommt, ist eine dicke Rauchwolke. Direkt ruft sie den ADAC an, der nach einigen Stunden Wartens endlich am richtigen Ort ankommt. Der große, kräftige Mann, der aus dem Wagen steigt, schaut sich zuerst einmal das Auto ganz genau an, bis er ihnen sagt, wie teuer die Reparatur ungefähr wird. „400€?!,  ruft Sandy plötzlich leise dazu. „Woher sollen wir das denn haben? Ich meine, wir haben gerade einmal 200€ Begrüßungsgeld, das wir für Essen brauchen!“

Der ADAC-Fahrer, der ihre verzweifelten Gesichter sieht, kommt zu ihnen und meint ganz lässig, dass sie sich keine Sorgen machen sollen und er es für sie bezahlt.

Gerettet!

Der Fahrer befestigt den Trabi am Auto und fährt zusammen mit Sandy und ihrer Mutter nach Nürnberg, wo sie dann in eine Flüchtlingsunterkunft gebracht werden.

Für Sandy und ihre Mutter fühlt es sich am Anfang in der BRD sehr komisch an, da dort eine ganz andere Politik herrscht und die Menschen dort eine ganz andere Mentalität haben. In der Schule wird Sandy in den ersten Monaten oft von ihren Klassenkameraden gemobbt. "Oft", sagt sie, "wurde gemeint, dass die Mauer wieder aufgebaut werden soll und sie zurück in ihr eigenes Land gehen soll, obwohl Deutschland längst schon wieder vereint ist."

Im Laufe der Monate kommt Sandy immer besser besser in der Schule klar und wird sogar Klassenbeste, sodass das Leben von Sandy und ihrer Mutter wieder normal weiterlaufen kann.

 

 

 

 

 
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