Ein Tag als Blinder

Yonah Yüksel, 9c, Gymnasium Altenholz 18. November 2022 1 Kommentar(e)
Mit dem Blindenstock und Maske unterwegs. © Yonah Yüksel

„Alexa, wie spät ist es?" – „Es ist 08:03 Uhr", so beginnt mein Tag.
Ich öffne meine Augen, stehe aus meinem Bett auf, jedoch bleibt alles schwarz. Ich taste mich durch den Flur zum Badezimmer. Da ich mich dort gut auskenne, geht alles gut.
Ich gehe die Treppe herunter. Da ich vor ca. 2 Jahren schon einmal gestürzt war, passe ich gut auf. Ich möchte gerade die zweite Kurve nehmen, da spüre ich mit meinem Fuß schon das Gestell des offenen Babygitters.

Wie kann ich schon unten sein?
Ich gehe etwas nach links in die Küche, greife in etwa dahin, wo ich das Toastbrot vermute. Und tatsächlich, ich spüre die Plastikverpackung und kann sie öffnen. Ich nehme mir zwei Scheiben heraus und stecke sie in den daneben stehenden Toaster. Ich drücke den Hebel herunter und warte.
Ich drehe mich nach rechts und laufe direkt in den Türrahmen. Trotz des pochenden Zehs komme ich zum Esstisch. Schon kurz bevor ich mich setze, steigt mir der leckere Geruch des knusprigen Toastbrots in die Nase. Und es schmeckt genauso gut, wie es riecht.
Wenig später kommt auch mein Bruder nach unten, wir ziehen uns die Schuhe an und gehen nach draußen. Zum Glück habe ich mir noch einen Blindenstock bestellt. Denn dieser erweist sich als sehr nützlich. Wir gehen durch den Wald zum Bäcker. Mein Bruder gibt mir immer wieder Richtungsanweisungen, wenn ich von der Strecke abkomme. Denn diese hat leider viele Kurven und man kann mit dem Stock nicht so gut über den Waldboden fahren. Obwohl ich den Weg normalerweise in 10 Minuten schaffe, fühlt es sich an wie eine Ewigkeit.
Da beim Bäcker viele Menschen in der Schlange stehen, habe ich genug Zeit, meinen Bruder zu fragen, ob mein gewünschtes Brötchen vorhanden ist. Es riecht sehr lecker nach frisch gebackenen Brötchen. Nachdem er bestellt hat, setzen wir uns draußen hin und essen.

Wieder zu Hause angekommen, fährt mich meine Mutter zu meiner Oma. Dort steige ich mit ihr in einen Bus nach Kiel.
Das Geld für das Ticket habe ich schon vorbereitet in meiner Hand. Die Münzen kann man gut erfühlen, da sie ja alle unterschiedlich groß sind. Der Busfahrer grüßt freundlich und meine Oma führt mich zu einem Sitzplatz. Der Bus ist sehr ausgelastet und man hört sehr viele Geräusche. Ich bin sehr konzentriert und probiere mir genau vorzustellen, wo wir gerade sind. Mir fällt auf, dass ich bei „normalen" Busfahrten sonst nur auf mein Handy schaue, statt auf die Umgebungskulisse zu achten.
Beim Hauptbahnhof steigen wir aus und betreten den Sophienhof. Dort ist es laut und man hört aus jeder Richtung Menschen reden, Babys weinen oder die Geräusche der umhergehenden Menschen. Als erstes gehen wir zu einer Drogerie. Dort sind die Gänge zwar eng, aber meine Oma führt mich, so dass ich nicht einmal irgendwo gegen stoße. Während wir an der Kasse anstehen, höre ich einen Streit zwischen Mitarbeitern und vor mir die Kassiererin, die gerade dem Kunden vor uns seine Summe mitteilt. Nach dem Bezahlen gehen wir zu einer Bäckerei und kaufen Laugenbrezeln. Diese schmecken, wie auch das Toastbrot, genauso, wie wenn man sie beim Essen anguckt.

Danach nehmen wir die Rolltreppe, um hochzufahren. Am Griff kann ich fühlen, wann wir oben ankommen. Daher habe ich auch keine Angst, am Ende hängen zu bleiben. Der Sophienhof hat zum Glück einen sehr glatten Untergrund, so dass es leicht möglich ist, mit dem Blindenstock darüber zu fahren. Während wir durch den Sophienhof gehen, bemerkt meine Oma, dass viele, vor allem junge Menschen, zu mir schauen. Als wir am anderen Ende ankommen, nehmen wir den Fahrstuhl und fahren herunter. Dort spüre ich, wie auch sonst, wie der Fahrstuhl sich bewegt und welche Kräfte auf mich einwirken.
Daraufhin gehen wir zu einem Discounter, um ein paar Einkäufe zu besorgen. Dort führt meine Oma mich wieder und während sie ein paar Dinge sucht, stehe ich neben einem Regal und warte. An dieser Stelle ist es mir sehr unangenehm, da ich mich auch wundern würde, wenn ein Mensch mit Schlafmaske und einem Blindenstock wie angewurzelt in einem Einkaufsladen stünde.
Plötzlich höre ich jemanden, der offensichtlich mich anspricht. Er, ungefähr 20 Jahre alt, fragt: „Bist du blind?"
Ich antworte nicht, da es mir zu unangenehm ist und bleibe einfach wortlos genau dort stehen. Wir gehen zur Selbstbezahlkasse, was für einen Blinden, ohne Begleitperson, auf Grund der vielen Barrieren unmöglich ist. Dann verlassen wir das Gebäude und gehen nach draußen. Dort kann man die vielen verschiedenen Untergründe deutlich spüren. So einfach wie in einem Gebäude mit glattem Untergrund geht es aber draußen nicht.

Da wir jetzt wieder nach Hause wollen, sind unser nächstes Ziel die Bushaltestellen. Doch dafür müssen wir eine große Straße überqueren. Zum Glück gibt es in der Innenstadt barrierefreie Ampeln, mit Signaltönen. Ich achte auch genau darauf, ob ich Autos höre, die in der Nähe sind. An vielen Bushaltestellen gibt es weiße Leitstreifen, durch welche blinde oder sehbeeinträchtige Menschen wissen, wo ungefähr die vordere Tür bei einem Bus ist, oder auch, wo der Bürgersteig endet und die Straße anfängt. Leider sind diese an manchen Bushaltestellen nicht vorhanden, wodurch es Blinden erschwert wird, sich zurecht zu finden.
In den richtigen Bus einzusteigen, ist für eine blinde Person auch sehr schwer, da man nie weiß, ob gerade der richtige Bus angefahren kommt. Als wir an einer Bushaltestelle warten, schickt ein Busfahrer eine junge Frau, um mich zu fragen, ob ich mit der Linie fahren möchte. Ich danke und lehne ab, da es nicht der richtige ist. Ich finde aber, dass es eine sehr freundliche und hilfsbereite Geste von dem Busfahrer und der Frau ist.
Zuhause angekommen, ist mir sehr langweilig. Ich warte auf einen Anruf meines Freundes Piet, dass er soweit ist, und wir nach draußen gehen können. Einen Tag zuvor hatte ich mit ihm abgesprochen, dass er mich anruft, sobald er bereit ist, zu mir zu kommen. Zehn Minuten, nachdem er mich anruft, klingelt es an der Tür und er holt mich ab. Zwar gehe ich jetzt zum zweiten Mal blind zum Supermarkt, in dem auch der Bäcker ist, aber dieses Mal einen anderen Weg. Dies ist im Nachhinein gesehen keine gute Entscheidung, da dieser Weg viele kaputte Bürgersteige mit schiefen Steinen beinhaltet. Daher kann ich meinen Blindenstock so gut wie gar nicht benutzen und bin auf Piets Hilfe angewiesen.

Im Supermarkt funktioniert es deutlich einfacher, den Stock zu benutzen. Dieser ist auch sehr wichtig, da es viele Regale und zum Beispiel Pappaufsteller gibt. Wir nehmen ein paar Dinge und gehen zu den Selbstbezahlkassen.
Zurück nehmen wir denselben Weg, und obwohl ich ihn kurz davor gegangen bin, ist es eine schwere Herausforderung, nicht in eine Hecke zu laufen. Vor meiner Haustür verabschiede und bedanke ich mich bei Piet.
Zuhause esse ich dann noch etwas, mache mir ein Hörbuch an, denn das ist so ziemlich das Einzige, was man ohne zu sehen Interessantes tun kann und schlafe dann blind ein.

Insgesamt lässt sich sagen, dass es zwar an vielen Stellen Unterstützungen, wie beispielsweise Leitstreifen oder Signaltöne gibt, es aber ohne Training mit Experten sehr schwierig ist, alleine zu leben und vor allem, nach draußen oder einkaufen zu gehen. Man fühlt sich in vielen Situationen sehr hilflos und ist auf die Hilfe anderer, entweder Personen, die einen begleiten oder fremde Personen, angewiesen. Ich finde es bewundernswert, wie, laut der WHO, circa 70 000 komplett Blinde und insgesamt circa 1 200 000 sehbehinderte Menschen in Deutschland ihren Alltag und Herausforderungen meistern.

 
1 Kommentar(e)
  1. Uwe
    28. November 2022

    Gefällt mir, der Text ist gut und ich finde das dein Selbstexperiment echt sinnvoll. Nun weißt du auch wie es ist blind zu sein, und ich glaube es war die Erfahrung wert. Beste Grüßen Uwe

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