Es braucht kein Woher, sondern nur ein Wohin!

Helene Bergmann 8d EBG 19. November 2022

Ich hatte mich mit meinem Opa für ein Telefonat verabredet und es gab kaum eine Stunde, in der ich so viel über die Vergangenheit meiner Familie erfahren hatte. Opa erzählte mir eine Stunde lang über seine Kindheit und sein Studium. Ich hörte ihm aufmerksam zu und erfuhr viele spannende Dinge. Ich erfuhr aber auch Dinge, die mich zum Nachdenken gebracht haben.

Der Opa meines Opas, mein Ururopa, hieß Reinhard. Er war das sechzehnte von zwanzig Kindern, von denen leider nur sieben erwachsen wurden. Zu seiner Zeit herrschte eine Volksseuche namens Tuberkulose, die damals von Kühen ausging. Sie war schlimmer als Corona und auch noch in vielen Fällen tödlich. Damals waren alle Kühe tuberkulös und somit starben viele Kleinkinder, die mit Kuhmilch aufgezogen wurden, meinte mein Opa, während unseres Telefonates über diese Reportage. Mein Ururopa Reinhard starb ebenfalls an der Lungentuberkulose im Alter von 56 Jahren. Vorher steckte er noch seine Tochter an, die mit 24 Jahren verstarb. Seine Familie hatte nicht sonderlich viel Geld, weswegen seine Kinder nicht viele Möglichkeiten für Bildung und Genuss hatten.

Otto, sein einziger Sohn und der Vater meines Opas, ging nach sieben Jahren auf der Volksschule als Gürtler in eine Fabrik. Er hatte damals keine Ausbildung machen können. Als 1914 der erste Weltkrieg begann, schloss die Fabrik. Nun ging er, statt sich eine Existenz aufzubauen, im Alter von siebzehn Jahren in den Krieg. Als er wieder heimkehrte, begann er bei der Kriminalpolizei als Sekretär zu arbeiten. Er lernte seine Frau kennen und 1940, ein Jahr nach Beginn des zweiten Weltkrieges, kam dann Norbert zur Welt. Mein Opa. Fünf Jahre später, als der Krieg vorbei war, war Otto der einzige Kriminalpolizist unter seinen Kollegen, der nicht bei der NSDAP war. Er wurde dann allerdings wegen einer chronischen Nierenerkrankung frühpensioniert Er wohnte mit seiner Familie in einer Genossenschaftswohnung.

In dieser Wohnung wuchs mein Opa auf. Die Zeiten im Krieg und auch noch danach waren schwer. Ihnen war kalt, weswegen sie in die Küche gegangen sind und ihre Hände unter kaltes Wasser gehalten hatten. Weil ihnen so bitterkalt war, empfanden sie das kalte Wasser als eine Erwärmung. „Es gab nur einen Wasserhahn in der Küche, zum Waschen und Spülen", erinnerte sich Opa. Zu essen gab es besonders in den Jahren 1945 bis 1947 kaum etwas, sodass Opa in anderen Gärten Obst und Gemüse klauen musste. Mein Opa berichtete von großer Armut. Trotzdem erzählte er nicht traurig davon. Opa sagte, dass er keine großen Kriegserlebnisse erlebt hat, er hat mir aber davon erzählt, dass, wenn ein Angriff auf die Stadt stattfand, sie sich im Keller oder in Schutzbunkern versteckten. In der Stadt durfte während des ganzen Krieges kein Licht brennen und als die Flugzeuge die Stadt anflogen, haben sie Lamettastreifen auf die Stadt regnen lassen. Außerdem hat er Stuttgart brennen sehen und mitbekommen, wie Bomben einschlugen und der Druck Fensterscheiben zerspringen ließ.

Am 21. Juni 1948, also an Opas 8. Geburtstag, wurde die westdeutsche Reichsmark durch die deutsche Mark ersetzt und jeder Deutsche bekam ein Kopfgeld von 40 Mark. Opa durfte sich etwas wünschen und er bekam zu diesem Anlass ein halbes Pfund Kirschen. Opa lacht, als er sich daran erinnert, und fügt noch an, dass er sich immer ein Spielzeug gewünscht hatte, aber die Mutter meinte, dass dafür kein Geld übrig sei.

Als ich das hörte, musste ich daran denken, dass viele Kinderzimmer heute überschwemmt sind von Spielzeug und vielen Kinder trotzdem langweilig ist. Mir wurde bewusst, dass Spielsachen damals etwas ganz Besonderes waren, auf das man gut aufpasste. So hat Opa oft mit vielen anderen Kindern auf der Straße gespielt. Er erzählte mir von „Kinderbanden", mit denen er durch die Straßen getobt ist.

Da er etwas schwächlich gewesen sei, kam er erst mit sieben Jahren in die Schule. Opa meinte, dass er von den 68 Kindern, mit denen er in einem Klassenraum saß, immer der Klassenbeste war. Das lässt sich heute freilich nicht mehr überprüfen. Mit zehn Jahren bestand er die Aufnahmeprüfung und war damit der erste seiner Familie, der auf das Gymnasium gehen durfte. Wegen des Schulgeldes war auch nicht ganz klar, ob es Opa wirklich möglich werden würde, auf das Gymnasium zu gehen. Aber Opa hatte Glück, wie noch oft in seinem Leben: Nach seinem ersten Schuljahr wurde das Schulgeld gestrichen. Während seiner Schulzeit war Opa bei den Pfadfindern, von denen er heute noch gerne erzählt. Er war fast jedes Wochenende und in den Ferien mit ihnen unterwegs.

1960 bestand Opa sein Abitur und wollte danach unbedingt Medizin studieren. Eine Woche vor Semesterbeginn wollte er sich in die Universität einschreiben. Das Einschreibebuch wurde aber gerade geschlossen, als er an die Reihe kam. Wie er mir mit entschiedener Stimme berichtete, wollte er sich so einfach nicht abschütteln lassen und ging direkt in das Sekretariat der Universität. Und wieder mal hatte Opa Glück in einer wichtigen Sache. Als er das Sekretariat betrat sah er, dass der Sekretär ein alter Pfadfinderfreund war. Opa sagte freudestrahlend: "Grüß dich, Bruno!", und erzählte ihm, dass er sich nicht mehr einschreiben durfte. Bruno erklärte ihm freundschaftlich, dass das kein Problem sei. Er würde ihn einfach unten mit hinschreiben und er solle am nächsten Tag in den Hörsaal der Anatomie kommen. Da gäbe es 400 Plätze und alle, die sitzen würden, werden aufgenommen. Mein Opa kam an diesem Tag sehr pünktlich zu seinem Termin.

Als Opa an diesen fröhlichen Moment dachte, lachte er und man merkte, dass er sich gut daran erinnern konnte.

Weil Opa nicht zwischen seinem Wohnort Esslingen und dem Studienort Tübingen pendeln wollte, brauchte er in Zimmer. Er berichtete mir, dass er nur ein Kellerzimmer bekam, in dem es unangenehm müffelte und feucht war. Dann aber holte ihn ein alter Pfadfinderfreund zu sich und Opa wurde Mitglied einer katholischen Studentengemeinschaft. „Das war total schön, man konnte sich nur leider schlecht konzentrieren, weil immer etwas los war", erinnert sich Opa. Und schon wieder hatte Opa Glück, denn die Studiengebühren wurden nach seinem ersten Semester gestrichen. Im zweiten Semester zog er um zu einer Witwe, die eine große Wohnung besaß und Zimmer anbot. Er erwischte leider ein Durchgangszimmer. Aber die Witwe versorgte ihn mit Essen.

Fürs dritte Semester plante er, ins Ausland zu gehen. Er bewarb sich an den Universitäten in Kiel, Zürich und Wien. In Wien hat man ihn angenommen. In diesem Semester ließ er es sich gut gehen. Er ging mit einer Studentenkarte, die 5 bis zehn Schilling kostete, etwa dreimal in der Woche ins Theater oder in die Oper und hat auch eine liebe Freundin kennengelernt. Da das Studium in Wien allerdings Geld kostete, hat er in den Semesterferien gearbeitet, um seine Eltern bei den Kosten seines Studiums zu entlasten. Er studierte dann noch zwei Semester in Tübingen und verbrachte das restliche Studium inklusive dem anschließend praktischen Jahr als Medizinalassistent in München.

Nach einem sehr erfolgreichen Berufsleben hat mein Opa heute immer noch Glück und ist ein zufriedener und unternehmungslustiger Rentner. Er spielt Golf, fährt E-Bike und reist munter durch die Welt.

Als ich mich mehr mit Opas Leben beschäftigt habe, merkte ich, dass er es geschafft hatte, in einer armen Zeit aufzuwachsen, und er trotzdem ein schönes und erfolgreiches Leben führen konnte. Opa wusste also, wohin er wollte und hat das auch geschafft. Er konnte sein Woher überwinden und ein selbstbestimmtes Leben führen.

 

 
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