LEBEN, FLIEHEN, ÜBERLEBEN
Leben einer ukrainischen Familie
Juni 2022, es ist schummrig, als ich durch die Tür trete. Ich stehe in einem schmalen, unbeleuchteten Flur einer Doppelhaushälfte. Er ist spärlich eingerichtet, und meine Schritte hallen von den nackten Wänden wider, es riecht nach etwas, was ich nicht beschreiben kann, dieser Geruch ist weder angenehm noch unangenehm - mein erster Eindruck, als ich die noch kaum eingerichtete Doppelhaushälfte das erste Mal vor dem Umzug betrete.
Ich befinde mich in einer eher großzügigen Unterkunft für eine vierköpfige Flüchtlingsfamilie aus der Ukraine. Es ist nicht der erste Besuch von mir, denn es sind meine Verwandten, denen wir bei der Flucht geholfen haben, und die nun für unbestimmte Zeit bei uns in Deutschland wohnen. Vor einiger Zeit haben sie noch bei uns im Haus gewohnt.
Es ist schrecklich, was momentan in Europa geschieht. Russland hat ohne Grund im Februar einen grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselt. Als angebliche Rechtfertigungen werden nicht zutreffende Gründe genannt, Russlands Rechtfertigungen basieren auf Lügen! Viele Menschen sind gezwungen, ihr Hab und Gut zurückzulassen und nur mit einem Koffer mit den nötigsten Dingen zu fliehen und dabei ihr Heimatland zu verlassen. Familien spalten sich, Frauen verlieren ihre Männer und Kinder ihre Väter und großen Brüder. Einige fallen im Krieg, andere können das Land nicht verlassen.
Jeder, der diese Bilder in den Nachrichten sieht, weiß, welche grausamen Zustände in der Ukraine herrschen und warum die Ukrainer fliehen. Wie geht es den Menschen nach der Flucht? Und wie kommen sie in den anderen Ländern zurecht?
Denn mittlerweile sind mehr als fünf Millionen Ukrainer aus ihrem Land geflüchtet und suchen in anderen Ländern Schutz.
Doch der Reihe nach, auf Wunsch der Beteiligten wurden die Angaben anonymisiert gemacht, und es wurden keine Bilder hinzugefügt.
März 2022, es herrschen unvorstellbare Zustände in der Ukraine, viele Städte sind unter starkem Raketenbeschuss, bei welchem auch zivile Einrichtungen getroffen werden. Meine engen Verwandten leben zwar nicht direkt im Kriegsgebiet, dennoch sind sie vom Krieg stark betroffen. Für mehrere Stunden am Tag heulen die Sirenen wegen des Luftalarms, und alle suchen in den öffentlichen Luftschutzräumen, ihren eigenen Kellern oder, falls beides nicht vorhanden ist, im Badezimmer Schutz.
Nach einigen Tagen ist es nicht mehr auszuhalten: Alle beschließen, gemeinsam aufs Land zu ziehen, in ein sehr kleines Dorf mit drei Häusern im Südwesten der Ukraine.
Zuerst ist die Hoffnung noch groß, auf dem Land andere Zustände vorzufinden und sich vorübergehend dort aufzuhalten. Doch auch dort herrscht Angst. Abends wird das Licht vor Sonnenuntergang gelöscht, um möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und das Haus möglichst unbewohnt aussehen zu lassen. Doch auch dies ist nicht lange auszuhalten. ,,Fast alle sind mit den Nerven gänzlich am Ende", sagt meine Tante in einem Videotelefonat, am schlimmsten ist es wohl für den Einjährigen.
Und so beschließt die Familie, aus der Ukraine zu fliehen, zu ihren deutschen Verwandten. Kurze Zeit später ist alles geplant, die Familie, packt in kürzester Zeit ihre Koffer mit dem Nötigsten zusammen und macht sich im Auto auf den Weg zur polnischen Grenze.
Immer noch März, nicht alle werden sie passieren, nur 4 von 5 Personen, denn mein Onkel darf die Ukraine nicht verlassen, da er zwischen 18 und 60 Jahren alt ist und theoretisch einberufen werden kann. Die Familie wird gespalten, wer weiß für wie lange.
Unsere Familie holt sie in der Ukraine ab, genauer gesagt an der Grenze zu Polen.
Die Reise verläuft 1300 Kilometer durch Polen.
Nach der ermüdenden Fahrt befinden sie sich in Sicherheit, sie haben eigene Zimmer und können nun in Ruhe ihre Sachen auspacken und sich einrichten, beim Auspacken der Koffer liegt ein komisches Schweigen in der Luft, fast niemand sagt ein Wort, doch dies ändert sich beim Abendbrot. Es wird das ein oder andere Gespräch geführt, um von den Ereignissen der letzten Tage und Wochen abzulenken.
So vergeht die Zeit, die Familie lebt mit in unserem Haus und ihnen geht es gut, sie gehen fast täglich raus auf einen der drei Spielplätze in der Umgebung. Jeder von ihnen ist in weniger als zehn Minuten zu Fuß zu erreichen. Alle haben zwar schwere Erinnerungen an das Heulen der Sirenen und die Angst in der Ukraine, ,,es war kaum noch auszuhalten, und wir haben uns nicht einmal getraut morgens Brot zu holen" - sagt meine Tante mir beim ersten Abendessen. Aber wir machen das Beste draus. Mit unserer Hilfe werden alle Schritte, wie Krankenkasse, Unfallversicherung und so weiter eingeleitet. Auch eine Unterkunft für längere Zeit wird schon gesucht.Jeden Tag wird gemeinsam zu Mittag gegessen und auch das Abendbrot findet im Familienverbund statt.
April 2022
Im Laufe des letzten Monats hat sich einiges verändert. Mittlerweile haben unsere geflüchteten Verwandten eine eigene deutsche Telefonnummer und meine Cousine darf nach den Ferien die kleine Dorfschule besuchen. Ihre Deutschkenntnisse sind zwar nicht die besten, aber zum Glück hat sie einen Cousin, meinen kleinen Bruder, der nur ein Jahr älter ist und in die gleiche Schule geht. Dass er in die vierte Klasse und meine Cousine in die dritte Klasse geht, ist nicht schlimm, denn da es für die vier Klassen nur drei Lehrer gibt, werden die Klassen 1 und 2, sowie die Klassen 3 und 4 zusammen unterrichtet und er kann für sie übersetzen.
Ich habe dieselbe Grundschule besucht und bin überaus glücklich darüber bin: Denn sie war immer sehr klein und familiär und wir alle in sind, glaube ich, glücklich, dass es sie noch gibt!
Außerdem nimmt nun der volljährige Teil der Familie an den ersten Deutschkursen für Ukrainer teil und lernt langsam Deutsch. Meine Cousine, die nun die Grundschule besucht, beherrscht die neue Sprache immer besser. Da sie kein Fahrrad fahren kann und mein Bruder kaum Fahrrad fährt, bringt mein Vater es ihr bei. Einige Wochen später kann sie schon relativ gut fahren und wir besorgen ihr ein eigenes Fahrrad, so wie ein Rad für meine Tante.
So geht es erst mal die nächsten Wochen und Monate weiter, das Deutsch meiner Cousine wird besser und auch sonst läuft alles gut. Arztbesuche stehen ebenfalls und auch diese laufen reibungslos, da meine Mutter mit dabei ist und übersetzt.
Doch im Juli beginnen die Sommerferien und da mein Bruder bereits in der 4. Klasse der Grundschule ist, geht es für ihn nun auf der weiterführenden Schule weiter. Auch er besucht nun , genau wie ich, das Gymnasium Altenholz.
Meine Cousine ist in die 3. Klasse gekommen und bearbeitet nun parallel digital die Aufgaben des Gymnasiums in der Ukraine. Sie hat schon ein paar Freundinnen gefunden, mit denen sie sich regelmäßig trifft und auch mit einer von ihnen wöchentlich einen Tanzkurs für Kinder besucht und andere Freizeitaktivitäten unternimmt. Mittlerweile ist ihr Deutsch so gut, dass sie sich mit dem nur deutschsprachigen Teil der Familie verständigen kann, aber dennoch wird es für sie eine kleine sprachliche Herausforderung werden, sich in der Grundschule noch weiter zu verständigen und dieses und nächstes Schuljahr zu absolvieren. Wie es danach weitergeht, weiß keiner, bis jetzt. Ihre Motivation ist einfach unfassbar groß und sie sagt sogar, mit einem kleinen Lächeln: ,,Ferien sind nicht besser als Schule, weil ich da meine Freunde mehr sehen kann und die Schule hier Spaß macht!".
Auch ihre Klassenlehrerin lobt sie: ,,Das ist echt super, dass sie so zielstrebig ist, nicht jedes Kind ist so motiviert."
Die ukrainische Familie Bankkonten angelegt und bekommt Sozialhilfe vom Staat ausgezahlt. So können sie sich das Nötigste hier in Deutschland leisten, Lebensmittel, Kleidung und weitere für uns alltägliche Dinge.
Juni 2022
Das Amt Dänischer Wohld hat zufällig eine Straße von uns entfernt ein Haus gemietet, mit zwei separaten Doppelhaushälften. Dies stellt es als Unterkunft für geflohene Ukrainer zur Verfügung.
Im unteren Stock sind nun auch unsere Verwandten untergebracht, sie haben so einen eigenen Garten. Über ihnen wohnt eine weitere, fünfköpfige ukrainische Flüchtlingsfamilie.
Größtenteils wurde das Haus auch vom Amt eingerichtet, so dass es bewohnbar ist, kleinere und größere Anschaffungen haben wir dennoch gemacht, damit es noch gemütlicher ist.
Meine Familie ist ,,sehr dankbar darüber", denn auch Gartenarbeiten und Wartungen am Haus werden vom Amt oder vom Besitzer erledigt. Auch Wasser, Strom und Heizung werden vom Amt bezahlt, wenn sie es in einem normalen Maß benutzen. Sie scheinen sich in ihrem neuen Zuhause wohl zu fühlen, obwohl sie sich sehr stark nach ihrer Heimat und ihren verlassenen Wohnungen sehnen.
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