Leben neu gelebt
Mein Patenonkel Vito war 40, als er einen Schlaganfall erlitt. Seitdem ist er auf der rechten Körperhälfte gelähmt.
Sportlich, beliebt, erfolgreich: Vito war das Paradebeispiel eines ungebundenen Großstädters mit großem Freundeskreis. Er verdiente viel Geld, machte tolle Urlaube, feierte häufig in Bars und Clubs, spielte Handball und schlief lange an den Wochenenden. Es gibt Fotos von meiner Taufe, auf denen er mich an einem Arm in die Höhe hält.
Im April 2011 war er mit dem Auto auf dem Weg, um sich mit einem Freund zum Feiern zu treffen. Plötzlich fühlte er einen stechenden Schmerz unter seiner rechten Schädelhälfte, „wie eine Welle von Schmerz." Er dachte sich nichts dabei und fuhr munter weiter. Als er ankam, konnte er keine Worte mehr bilden und lallte stark. Sein Freund dachte zuerst, er sei betrunken, erkannte aber zum Glück, dass es eine viel ernstere Angelegenheit war. „Der Krankenwagen kam sehr schnell", erzählte Vito.
Sein Puls war ungewöhnlich und Vito wurde gesagt, dass er wahrscheinlich einen Schlaganfall hatte. Richtig realisiert hat Vito das in der Situation nicht, sondern sich im Krankenhaus über die lange Behandlung gewundert, schließlich wollte er noch zu einer Party gehen. Diesen Plan musste Vito aber verschieben. Nach einem MRT und einer Not-OP, in der die Hauptschlagader in seinem Gehirn geflickt wurde, durfte Vito das Krankenhaus nach fünf Tagen verlassen. Ab dann war Vitos Leben nicht mehr so, wie er es kannte. Sein Motto wurde „ich will", und das waren auch die ersten verständlichen Worte, die er sprach.
Der für die Sprache verantwortliche Teil des Gehirn befindet sich genau an der Stelle, an der Vito die Blutung hatte. Er konnte
praktisch keine vollständigen Worte oder Sätze mehr bilden und versuchte, sich mit Gesten und Mimik verständlich zu machen. Durch die halbseitige Lähmung war aber auch dies schwierig, die rechte Hand war nicht mehr zu gebrauchen, den rechten Fuß zog er beim Gehen nach.
Nachdem Vito aus dem Krankenhaus entlassen wurde, versuchte er, Englisch zu sprechen, was sein Neurologe damit erklärte, dass der für Fremdsprachen zuständige Teil des Gehirns an einer anderen Stelle als der beschädigten liegen würde. Vito musste sich das Spechen auf Englisch abgewöhnen, weil er sonst eventuell nie seine Muttersprache zurück erlernt hätte.
Lange Zeit verbrachte Vito in einer der besten Reha-Kliniken Deutschlands, wurde dort mobilisiert, psychisch betreut und von Spezialisten für Sprache behandelt. Er lernte erneut zu sprechen und kann sich heute gut verständlich machen, auch wenn man ihm anmerkt, wenn er müde oder unkonzentriert ist. Bis heute hat Vito seine Sprache nicht vollständig zurückerlangt und besucht jährlich für einige Wochen eine Rehabilitationsklinik.
Nach seinem Schlaganfall konnte Vito nicht mehr als Kontakter in einer Werbeagentur arbeiten. Er wurde damit zum Rentner und begann, auf 450 Euro Basis zu arbeiten. Den Lebensstil, den er vor seinem Schlaganfall lebte, konnte Vito sich nicht mehr leisten. Er war gelangweilt, Mitte 40 und wollte etwas erleben. Als ein Freund ihn fragte, ob er Lust auf Segeln hätte, sagte Vito sofort ja. Trotz der halbseitigen Lähmung nahm er an einer Regatta quer über den Atlantik teil und segelte mit Freunden die „Atlantic Odessey" von Lanzarote nach Martinique. Auch wenn auf der Reise nicht alles gut funktionierte - „als das Segel riss waren alle an Bord richtig hektisch" - schwärmte Vito von der Schönheit der Reise und nahm ein paar Jahre später die Möglichkeit wahr, sie zu wiederholen.
Einige Zeit nach seinem Anfall hatte Vito die Erlaubnis erhalten, wieder Auto zu fahren. „Auf einmal hatte ich wieder ganz viel Freiheit", sagte Vito. Jedes Jahr fuhr er zum Open Air nach Wacken, besuchte Freunde überall in Deutschland, jobbte als Fahrer für ein Zahntechniklabor und begann, sich mit dem Aktienhandel zu beschäftigen. Auch wenn Vitos neues Lebens gut funktionierte, hatte der Schlaganfall Folgen hinterlassen.
Leider gehörte Vito zu den 10% aller Schlaganfall-Patienten, die eine Form von Epilepsie entwickelten. Die Krampfanfälle hatten zur Folge, dass er nicht mehr Auto fahren durfte und jeden Tag große Mengen von unterschiedlichen Medikamenten nehmen musste, die teilweise auch starke Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Unkonzentriertheit und Magenschmerzen hatten. Vito folgte erneut seinem Motto „ich will" und kämpfte sich mit Hilfe von Ärzten, Physiotherapeuten und Freunden durch schwere Monate. Seit wenigen Wochen darf er wieder Auto fahren und sagt über sich, er sei zufrieden mit seinem Leben. Mein Patenonkel ist ein Kämpfer.
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