Inwiefern prägt die Nachkriegszeit die Zeitzeugen noch heute und wie war ein Leben in dieser Zeit überhaupt?
In einem kleinen Haus am Stadtrand Kiels lebt die 1940 geborene Erna Strauß, überall stehen Schwarz-weiß-Fotos aus vergangenen Zeiten neben verschiedensten Büchern im fein säuberlich sortierten Regal. 1944 floh ihre Mutter mit Erna und deren Bruder aus der Nähe Berlins nach Eckernförde, wo sie bei Verwandten unterkamen. Am Esstisch voller Kreuzworträtsel sitzend, berichtet die lächelnde 82-Jährige von ihrem Leben in der Nachkriegszeit in einer völlig neuen Umgebung.
Hunger,Mangel & Bemühungen
Die ersten Jahre ihrer Kindheit seien vor allem von Mangel an Nahrung geprägt gewesen. Die über sogenannte Lebensmittelkarten ausgeteilte Nahrung hätte oftmals einfach nicht gereicht, um eine Familie gänzlich zu versorgen. So sei die Mutter dazu gezwungen gewesen, lange Strecken über Land zu fahren, um die Familie ohne eigenes größeres Einkommen zu ernähren. Bei den auf dem Land ansässigen Bauern versuchte sie, alles von Wert wie z.B Bilder oder Tischdecken gegen irgendetwas Essbares zu tauschen. Auch die Kinder hätten alles ihnen Mögliche getan, um an etwas zu essen zu gelangen. Nachdem die örtlichen Bauern die Nahrung eingefahren hatten, liefen Erna und andere Kinder aufs Feld, um nach Überbleibseln der Ernte zu suchen oder zu graben.
Trotz der Bemühungen der Mutter und ihrer beiden Kinder reichte es einfach nicht für herkömmliche Gerichte, sodass man zu Alternativen gezwungen gewesen sei , indem man beispielsweise Kartoffelschalensuppe oder andere Gerichte aus normalerweise nicht zum Kochen verwendeten Pflanzenteilen zubereitete. Sie verzieht das Gesicht ein wenig angeekelt bei dieser Erinnerung. Solche Speisen beschreibt Erna Strauß bestenfalls als essbar, jedoch nicht als empfehlenswert. Andererseits sei sie sehr dankbar dafür gewesen überhaupt etwas zu essen zubekommen und fügt an: ,,Vielen Leuten, Kindern und Familien, erging es zu dieser Zeit sehr viel schlechter als mir und meiner Familie, sie hatten gar kein Essen oder gar ein Dach über den Kopf.“
Neben ausreichend Nahrung hätte es auch an allem Möglichen gefehlt, wie z.B. medizinischer Versorgung oder auch ganz anderen einfachen Dingen, wie beispielsweise Zahnbürsten. Ihre erste Zahnbürste hätte sie erst am Tag ihrer Einschulung bekommen. Das sei alles andere als selbstverständlich gewesen. Heute ist es wohl selbstverständlich, eine eigene Zahnbürste zu haben, damals sei dies Luxus gewesen. Heute sitzt Erna Strauß an einem reichlich gefüllten Esstisch und von Mangel an Zahnbürsten kann keine Rede mehr sein.
Langersehnte Rückkehr
Wie viele andere hätte auch ihr Vater in englischer Kriegsgefangenschaft in Eckernförde gesessen. Als dieser nach Hause kam, sei die Freude groß gewesen, da man nie gewusst hätte, wann oder ob er frei kommen würde. Man hatte also in Sorge um ihn gelebt und nun war er recht schnell frei gekommen. Einige Zeit später seien sie nach Stohl gezogen, wo ein Teil der Familie noch heute wohnt.
Ein neues Leben
In Stohl habe der Vater eine Anstellung als Hausmeister in einem Heim behommen, in welchem zunächst Kinder, die im Krieg ihre Familie verloren hatten, und später Leute ohne andere Unterkunft wohnten. So habe der Vater der Familie ein Zuhause und ein festes regelmäßiges Einkommen gesichert, berichtet Erna, während es draußen schon langsam dunkler und schummrig wird. Man hätte eben einfach neu anfangen müssen, man habe schlicht keine Wahl gehabt. Man habe sich schließlich ein neues Leben und eine Zukunft aufbauen müssen. In Stohl eröffnet die Familie später eine kleine Gastwirtschaft, die sich zu einer sicheren Einnahmequelle entwickelte und die Zukunft der Familie absicherte. So sei den beiden Geschwistern der längere Schulbesuch und eine Ausbildung ermöglicht worden. Ihre Eltern ermöglichten ihr ein Leben, welches sehr viel besser war, als sie sich habe erhoffen können, als der Krieg endete und sie vor dem finanziellen Ruin standen. Ihre Eltern ermöglichten ihr das Leben, das sie heute führt, mit eigenem Haus und Garten, einem Ort, an dem man sich wohl fühlen könne.
Langsam sei neuer Wohlstand eingekehrt und die Lage der Gesellschaft habe sich generell gebessert. Für sie als Kind sei der neue Wohlstand zunächst etwas Neues und Fremdes gewesen, da sie in der Zeit des Krieges geboren und in der Nachkriegszeit aufgewachsen war. Als Kind hätte sie es nie anders gekannt und hätte die Situation eben einfach hingenommen, es sei eben nicht viel selbstverständlich gewesen. Krieg, Mangel an Nahrung usw. seien schon immer da gewesen, waren eben Teil des Alltags wenn auch kein besonders angenehmer. Um ihr und ihrem Bruder ein besseres Aufwachsen zu ermöglichen, hätten ihre Eltern versucht den Krieg bestmöglich von ihnen fernzuhalten.
Gewohnheitstiere
Bei sich selbst und bei einigen anderen Zeitzeugen hätte sie beobachten können, wie man den zunächst wertvollen und wertgeschätzten Wohlstand und Überfluss für immer selbstverständlicher hielt, bis man schließlich daran gewöhnt war. ,,Der Mensch ist wohl ein Gewohnheitstier“, meint sie ein wenig melancholisch. Gerade heute, wenn wieder Leid, Krieg und Konflikte in Europa und auf der Welt immer sichtbarer werden, merke man, dass sie nie so ganz verschwunden seien, erinnere man sich an alte Zeiten zurück. Man fühle mit den Menschen, die davon betroffen sind, vor allem wenn man Ähnliches selbst erlebt habe. An diesem Punkt würde einem wieder einmal erschreckend bewusst, wie wertvoll und nicht selbstverständlich unser Wohlstand auch heute noch sei und wie leicht man diesen auch wieder verlieren könnte.
(Der Name der befragten Person wurde auf eigenen Wunsch abgeändert)
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