Aus dem harten Osten ins fortgeschrittene Deutschland

Alexandra Likhocherst, Gym. Lütjenburg, Medienpraxis 16. November 2020
© Alexandra Likhocherst

1996: Die Auswanderung meiner Mutter

Es war ein harter Weg, doch nach 24 Jahren ist die Auswanderung von Russland nach Deutschland ein Teil der Vergangenheit meiner Mutter, die heute nur noch in erzählten Geschichten auftaucht. Heute wollen wir diese Erinnerungen auffrischen. Dazu habe ich meine Mutter Sneschana Likhocherst interviewt. Wie ihre Auswanderung als Zwanzigjährige ablief und wie es damals war, erfahren Sie anschließend.

Hallo, erzählt doch bitte etwas über dich.
Ich wurde am 23. Februar 1976 im Nordkaukasus, Russland, als erstes von drei Kindern geboren. Meine Eltern waren gewöhnliche Arbeiter im Kolchos (einer Arbeitergemeinde) und das Leben war alles andere als einfach. Wir wohnten in einem kleinen Haus mit meiner Großmutter mütterlicherseits zusammen. Als ich dann meine Ausbildung als Veterinärhelferin abgeschlossen hatte, stand der Auswanderung nichts mehr im Wege.

Erzähl, warum ihr eure Heimat verlassen habt.
In unserer Heimat galten meine Familie und ich immer als Außenseiter, da wir durch meinen deutschen Vater die deutsche Staatsangehörigkeit hatten. Wir hatten bis zu diesem Zeitpunkt zwar unser ganzes Leben in Russland verbracht, sprachen Russisch, arbeiteten genauso hart wie alle anderen und wurden trotzdem am Ende des Tages als Faschisten beleidigt, was nicht einmal Sinn ergab. Wir waren immer „die Deutschen". Dazu kam noch die wirtschaftliche Lage Russlands. Erst ein paar Jahre zuvor löste sich die Sowjetunion auf, was die Wirtschaft in ein Tief trieb. Uns als Familie ging es nicht gut und die Zukunft war ungewiss. Ein weiterer Aspekt war, dass die Wehrpflicht meines zu der Zeit 18-jährigen Bruders anstand. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass er im ersten Tschetschenienkrieg hätte dienen müssen. Dies barg große Gefahren, weswegen wir letzten Endes auswanderten.

Wie habt ihr euch auf die Auswanderung vorbereitet?
Bei der Vorbereitung gab es verschiedene Dinge, die wir beachten mussten. Als erstes haben wir alle nötigen Dokumente vorbereitet, wobei wir Hilfe von Verwandten bekamen. Diese Dokumente beinhalteten zum Beispiel unsere Geburtsurkunden. Dort konnte man dann nachweisen, dass wir Deutsche waren. Nebenbei verkauften wir unseren ganzen Besitz. Unseren häuslichen Bauernhof lösten wir auf und der letzte Schritt war dann, das Haus zu verkaufen. Wir bekamen wir unser Haus, für damalige Verhältnisse, noch relativ viel Geld, was uns später noch half. Als das alles getan war, gab es nur noch meine Familie, mich und unsere vier Taschen.

Wie war der Weg nach Deutschland?
Der Weg war wie ein Flug in den Urlaub, jedoch ging es für uns in ein neues Leben. Wir starteten in Moskau am Internationalen Flughafen Scheremetjewo und in kürzester Zeit saßen meine Familie und ich im Flugzeug auf dem Weg nach Deutschland.

Wie und wo war eure Ankunft?
Wir kamen in Hamm, einem Ort in Nordrhein-Westfalen an und wurden dort in eine Erstaufnahmeeinrichtung gebracht, wo wir circa eine Woche verweilten. Wir trafen auf viele verschiedene russlanddeutsche Familien, die dasselbe wie wir durchgemacht hatten. Dies gab uns ein Gefühl von Heimat zwischen dem ganzen Trubel. Dort hatten wir dann die Möglichkeit, unseren zukünftigen Wohnort zu wählen, und da wir schon Verwandte im Norden hatten, ging es für uns erstmal nach Neumünster in ein weiteres Aufnahmelager. Nach einer weiteren Woche kamen wir nach Kaköhl in eine bescheidene Notunterkunft.

Was war anfangs besonders schwierig für euch?
So gut wie alles stellte sich als Herausforderung raus. Die einzige Person aus meiner Familie, die fließend Deutsch sprechen konnte, war mein Vater. Jedoch war das noch altes Deutsch, was er in seiner frühen Kindheit sprach. Meine Geschwister und ich nutzten unsere in der Schule erlernten Deutsch-Kenntnisse, was aber noch lange nicht genug war, um sich verständigen zu können.

Wie wurdet ihr hier behandelt?
Wir wurden hier die meiste Zeit gut behandelt. Direkt nach ein paar Tagen kam eine Frau namens Astrid Holdermann von der katholischen Kirche zu uns und half uns mit allen jeglichen Formalitäten. Sie stand uns allen bei, Jobs zu bekommen und war eine Art Ansprechpartnerin für uns. Leider verstarb sie vor ein paar Jahren, wir trauern heute noch sehr, denn sie war eine der wichtigsten Personen für uns in den ersten paar Jahren.

Denkst du manchmal nach, wie das Leben wäre, wärst du damals in Russland geblieben?
Natürlich habe ich mir schon manchmal Gedanken darüber gemacht, wie mein Leben jetzt wäre, wäre ich damals dortgeblieben. Mein Leben würde jetzt wahrscheinlich wirtschaftlich schlechter aussehen. Ich müsste mir wahrscheinlich Sorgen machen, wie ich über die Runden kommen würde und ob ich genug zu essen hätte. Zum Glück konnte ich dem Allen entfliehen.

Hast du noch Kontakte in Russland?
Ja, definitiv. Der Großteil der Familie meines Mannes lebt noch dort und ebenfalls pflege ich noch Kontakte mit alten Schulkameraden, Freunden und auch einem Teil meiner Familie. Leider sind nicht alle unsere Verwandten hier. Viele von ihnen hatten keine Verbindung mit Deutschland. Weder Verwandte, noch die deutsche Staatsangehörigkeit. Unter diesen Umständen wäre eine Auswanderung zu diesem Zeitpunkt fast unmöglich für sie gewesen. Unsere Verwandtschaft gönnt uns natürlich, dass wir uns hier in Deutschland ein gutes Leben aufbauen konnten, jedoch gibt's auch Vorwürfe. Aber wir alle wissen, dass, wenn sie damals eine ähnliche Chance wie wir gehabt hätten, sie diese genauso genutzt hätten.

Was hat dich deine Auswanderung gelehrt?
Diese Auswanderung hat mich gelehrt, dass ich mein Leben nutzen muss. Meine Zukunft kann ich selber bestimmen, jedoch muss ich einfach die Chancen nutzen, die mein Leben mir gibt. Man muss ein Risiko eingehen, sonst verpasst man zu viele Möglichkeiten. Außerdem ist mir klar geworden, dass man für alles dankbar sein muss. Selbst für Sachen, wie sauberes Leitungswasser oder gute ärztliche Versorgung. Wir sehen heutzutage viel zu viel als selbstverständlich an, bis man merkt, wie gut es einem doch geht.

Pflegen du und deine Familie noch russische Traditionen?
Wir sind zwar Deutsche, jedoch sind die russischen Traditionen noch tief in uns verankert. Zu Hause wird regelmäßig Russisch gesprochen und dazu findet man immer mal wieder traditionelle Gerichte auf unserem Tisch vor. Natürlich konnten wir unser Leben auf unserem alten Bauernhof nicht komplett hinter uns lassen. Deswegen kauften wir uns schon früh nach unserer Ankunft einen Schrebergarten mit einer kleinen Ackerfläche. Diesen Garten pflegen wir bis heute noch und bauen dort jedes Jahr unsere eigenen Kartoffeln, Radieschen oder auch Erdbeeren an.

Es war natürlich ein harter Weg, aber abschließend kann man sagen, dass sich die Auswanderung gelohnt hat. Wir als Familie Karij haben uns damit ein Leben in Sicherheit, Freiheit und Gleichheit ermöglicht.

 
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