Wo ist unsere Zeit hin...

Emily Sophie Schmidt,12b (RBZ am Königsweg) 17. November 2020
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Wo ist nur unsere Zeit hin...

 

Höre das Lachen, sehe das Licht, spüre den Windzug, als die Tür geöffnet wird. Dein Lachen wird lauter, auch das Lachen der anderen Mädchen klingt wie ein Liebgesang durch den sonst so leeren Raum. Auf dem Schreibtisch leuchtet ein grelles Gerät, es läuft seit Tagen auf und ab und erfüllt den Raum mit Lärm. Wie kannst du ihm nur so viel Zeit widmen? Eines der Mädchen hält ein ähnliches Gerät wie das auf dem Schreibtisch in der Hand, es ist nur viel, viel kleiner! Jetzt fällt mir auf, dass du ja auch noch eines dieser kleinen Teufelsdinger besitzt. Eigentlich jedes Mädchen in diesem Raum. Und wofür? Für Lärm? Für Licht? Aber da reicht eine Lampe doch auch. Vielleicht für Fotos? Doch du besitzt eine Kamera. Ich habe gesehen, wie du geweint hast vor Wut und Trauer. Dabei hast du auf dieses Gerät geschaut. Und trotzdem schenkst ihm jeden Tag sooo viel deiner Aufmerksamkeit. Du bist „Im Google-Wahn“, sagte unsere Mama ab und an. Diese Google ist ja schon deine beste Freundin. So oft, wie du sie fragst wo „man essen gehen könnte“, „was der neueste Trend ist“ und noch so unglaublich viele Dinge mehr. Damals, als deine Wände noch rosa waren, da gab es diese Google noch nicht. Ich glaube, dass das bald schon 15 Jahre her ist. Wo ich doch gerade an die rosa Wand dachte, da schoss mir die Erinnerung an die langen, kalten und dunklen Winternächte ins Gedächtnis. Du hast mir immer vorgelesen aus all deinen bunten Büchern. Aus ihnen hast du die Fantasie geschöpft, mir dieses Leben schenken zu können. Ob es nun ein Strand war, an dem pinke Glitzerdelphine lebten, oder der Dschungel, in dem ich deine Königin war.

Über all die Jahre habe ich viel gehört. Von unserer Mutter, deinen Erziehern, deinen Freunden und vielen Fremden, für deren Existenz nur ihre Worte bürgen könnten.Oft ging es um die „Bedeutung der Medien für Kinder“. Du bist ein Kind. Oder warst mal eins. Ich kenne dich nicht mehr als das, was du einmal warst. Du hast dich so sehr verändert, dass es mich schmerzt. Und ich glaube, du hast mich auch vergessen. Die Puppe, die einst dein Leben zum schönsten aller Leben gemacht hat. Die Puppe, die deinen Kummer von den Schultern gehoben hat. Die Puppe, die dich nachts vor den Monstern beschützt hat, und die Puppe, die du längst vergessen hast.

Wenn du mich noch ein letztes Mal nach einer Geschichte fragen würdest, wäre ihr Name „Wer in Computern lebt“. Sie würde von kleinen Mädchen wie dir handeln. Früher eine der Schlausten, die Schöpfung höchst persönlich, jetzt sind deine Noten so schlecht, dass Mama sich in den Schlaf weint. Du bist nur noch an deinem Computer. Das grelle Ding auf dem Schreibtisch. Du schreibst mit Fremden, die dich zum Weinen bringen. Sie machen dich traurig. Ich habe dich nie traurig gemacht. Wieso wählst du Trauer und Unzuverlässigkeit vor all der Freude, die ich dir bereitet habe? Manchmal verstehe ich Menschen nicht. Sie wählen immer das, was am verlockendsten ist, anstelle der sicheren Vertrautheit.

Der Ruf von unserer Mutter weckt mich aus meinen Erinnerungen und ich sehe dich und all die anderen Mädchen auf dem Bett. Die Fenster geschlossen, vom selben Lärm umgeben, wie seither. Auch, wenn ich jedes dieser Gesichter sehe von den Mädchen, die du deine Freunde nennst, sehe ich eigentlich nur die traurigen Gesichter von alten Spielzeugen, die als Hinterlassenschaft an die Kindheit unbewegt im Regal sitzen. Ersetzt durch Smartphones und Computer. Lange ist's her und die Zeit, wo ist sie hin?

 
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