Handgemenge

Ray 16. November 2022 1 Kommentar(e)
M.C: Escher © https://www.dw.com/de/5-k%C3%BCnstler-bei-denen-sie-ihren-eigenen-augen-nicht-trauen-k%C3%B6nnen/a-43145468

 

Im Jahr 1929 erschien von der Schriftstellerin Virginia Woolf das Buch „Ein Zimmer für sich allein“. Dort schreibt sie „eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Bücher schreiben möchte“. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Schöner Wohnen“ vom Oktober 2022 prangt folgende Schlagzeile auf dem glänzenden Cover: „Ein Mini-Apartment mit Charakter“. Schöne Worte, doch beschreiben sie die Realität der meisten Menschen in Deutschland? Studien, die insbesondere den Zusammenhang von häuslicher Gewalt und der Corona Pandemie untersuchten (Journal of Health Monitoring 2020 vom Robert-Koch-Institut), belegen, dass viele Familien in beengten Wohnverhältnissen leben müssen und diese aufgezwungene Enge sich negativ auf die psychische Gesundheit der Familienmitglieder auswirken kann.

 

 

E   N G E

 

 

„In diesen Mauern, diesen Hallen Will es mir keineswegs gefallen. Es ist ein gar beschränkter Raum,

man sieht nichts Grünes, keinen Baum, in den Sälen auf den Bänken

vergeht mir Hören, Sehen und Denken“. (Faust 1. Teil (Goethe), Schüler zu Mephistopheles).

 

 

Was ist, wenn kein Platz zum Denken bleibt, das Zuhause ein Gefängnis wird und es keine Privatsphäre gibt? Wenn Tür zu und Ruhe - nicht geht.

Tür auf für ein Gedankenexperiment:

 

Eingeengt, Du fühlst dich eingeengt …

 

Du bist 14 Jahre alt, deine kleine Schwester ist sechs. Deine Eltern sind zwar noch nicht geschieden, aber wünschen sich das insgeheim. Dein Vater verbringt zwar ein Großteil seiner Zeit Hause, kein Wunder ohne Job, aber das macht euer Verhältnis nicht besser. Deine Mutter arbeitet Vollzeit als Reinigungskraft. Du würdest dir wünschen, sie mehr als nur an Feiertagen zu sehen – vielleicht manchmal sogar lächelnd. Andererseits vielleicht besser so. Dein Vater bringt all die Energie, die er nicht fürs Trinken benötigt, in die Familie ein. Er ist laut, aggressiv, unvorhersehbar und damit angsteinflößend. Deine Familie besitzt zwar einen Wohnberechtigungsschein (WBS), damit ihr in eine günstigere Wohnung, sogenannte Sozialwohnung, ziehen könntet, doch seit mehr als einem Jahr nützt euch dieser WBS nichts. Denn du stehst mit vielen anderen Familien seit Jahren ganz unten auf der Warteliste, ähnlich wie deine Hoffnung nach all dieser Zeit. Geld genug für eine Vier-Zimmer- Wohnung, die nicht vom Staat unterstützt wird, habt ihr nicht. Deine Mutter verdient den Mindestlohn (12 €/pro Stunde), dein Vater erhält Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich Hartz IV, in Höhe von 449€. Das Kindergeld (219€/pro Kind) reicht nicht mal, damit du oder deine Schwester eigene Computer oder teure Hobbies haben können. Du harrst in einer Zwei- Zimmer- Wohnung aus, mit kaum Platz zum Denken. Somit musst du dir ein Zimmer mit deiner kleinen Schwester teilen, das Wohnzimmer ist zugleich das Schlafquartier der Eltern. Du kannst noch nicht mal alleine von Privatsphäre träumen. Du hasst es, dass jeder, der ins Bad will, euer Kinderzimmer durchqueren muss. Nachts musst du deine kleine Schwester oftmals wieder zum Einschlafen bringen, wenn sie wach wurde, weil jemand auf die Toilette musste. Besonders zu Beginn von Corona wirst du auf den Boden der Tatsachen geworfen. Die Schulen und Kindergärten sind geschlossen. Alle sind zu Hause. Zusammen. Der Unterricht soll online stattfinden. Du hast keinen Computer, dein Handy hat nicht die nötige Qualität, um an den Videokonferenzen ernsthaft teilnehmen zu können. Du schämst dich die Kamera einzuschalten, weil eure Wohnung, aufgrund der fehlenden Zeit, mehr als ranzig aussieht. Du kannst dich kaum auf den Unterricht konzentrieren, da deine Schwester ständig Aufmerksamkeit verlangt und dein Vater einen unvorstellbaren Lärm verursacht. Wenn du hörst, dass andere sagen, dass sie endlich entschleunigen können, Zeit haben ihren Garten oder Balkon zu dekorieren und ein generelles Privatleben erfahren können, könntest du kotzen. Du sehnst dich nach Raum, Ruhe und vor allem Freiheit. Und hast nichts davon in diesem Gefängnis. Kopfhörer sind dein bester Freund, um wenigstens zeitweise einen deiner Gedanken hören zu können. Du gibst Virginia Woolf Recht, jeder braucht Geld und ein eigenes Zimmer, um produktiv sein zu können, doch nicht jeder hat genug Geld, Virginia!

 
1 Kommentar(e)
  1. Promedia Maassen
    17. November 2022

    Lieber Ray, wow, wir haben Gänsehaut und wir sind in vielerlei Hinsicht begeistert von deinem Beitrag - von der Bildauswahl für deinen Beitrag über den Auszug aus Goethes „Faust“ bis hin zu der Ausführung deines Gedankenexperimentes. Man merkt, dass du dich intensiv mit der Thematik der Auswirkungen von Corona und dem „Zuhause sein“ und den daraus resultierenden Folgen beschäftigt hast. Dein Beitrag verlangt vom Leser volle Aufmerksamkeit, die durch deinen Textaufbau spielend erreicht wird. Er regt uns hier im Büro zu Gesprächen und zum Nachdenken an. Ein mehr als kreativer Beitrag! Liebe Grüße Das MiSch-Projektteam Carina und Kerstin

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