Wärmende Sonnenstrahlen treffen auf einen kleinen, roten, gemütlich eingerichteten Bauwagen mit weißen Sitzbänken und einem kleinen Fenster mit Blick auf die grasenden und dösenden Pferde auf der Koppel, von überall her hört man leises Schnauben der Pferde, das Klappern von Hufen auf dem Betonboden der Stallgassen und das quietschende Geräusch der Schubkarren. Auch steigt einem der Geruch von frischem Stroh und Heu sowie ein leichter Geruch von Mist in die Nase.
„Hufe klappern, Pferde traben, fliegen über'n Wassergraben!" – Aber heute nicht.
Heute ist wieder Hippotherapie, das bedeutet, die beiden Therapeutinnen Lise Kaffl-Brauckmann und Nadin Hesse arbeiten wieder mit besonderen Kindern.
Die beiden Frauen sind schon da. Gemeinsam wird alles vorbereitet. Das Putzzeug in einer Putztasche, bestehend aus Bürsten aller Art und einem Hufauskratzer, sowie ein Reitpad, ein mit Lammfell gepolsterten Gurt mit Ledergriffen und ein dunkelblauer Halsring werden aus einer kleinen, nach Kräuterleckerlis duftenden, Sattelkammer geholt. Nadin sagt: „Man muss aufpassen, was man in die Putztasche tut, damit die Kinder sich nicht verletzen." Nun holt sie Gustur, eines der beiden Therapiepferde, von der Koppel.
Hippotherapie ist eine physiotherapeutische Maßnahme in der Neurologie, welche die "Bewegung des Kleinpferdes im Schritt" als Therapeutikum für Patienten mit zentralen Bewegungsstörungen nutzt. Sie muss wegen der medizinisch-therapeutischen Zielsetzung deutlich abgegrenzt werden vom heilpädagogischen Reiten/Voltigieren (mit pädagogisch-psychologischer Zielsetzung) und vom Behindertenreiten (mit rehabilitativer Zielsetzung). Hippotherapie ist also nicht einfach nur Reiten.
Alles fertig? Dann kann es losgehen. Ein roter Kleinbus erreicht den idyllisch gelegenen Hof. Drei Betreuerinnen und fünf gut gelaunte Kinder, eins davon im Rollstuhl, steigen aus. Von den Therapeutinnen freundlich begrüßt geht es ans Kennenlernen des Pferdes. Heute ist der Neue im Geschäft, Gustur, genannt Gusti, an der Reihe. Das andere Therapiepferd Röst vom Gut Tiergarten, genannt Rösti, ist die Erfahrenere und Feinfühlige. Sie ist seit fast 10 Jahren als Therapiepferd im Einsatz. Beides sind Islandpferde. „Das Besondere an den Islandpferden ist, dass ihre dreidimensionale Bewegung, also die Bewegung des Rückens in der Bewegungsrichtung nach vorne und hinten, die abkippende Seit- Seit Bewegung nach rechts und links und die rotierende Bewegung des Hinterteils, deutlich ausgeprägter ist als bei anderen Pferden" , erzählt Kaffl-Brauckmann. Außerdem ähnelt die Schrittfrequenz der Isländer der des Menschen. Da genau diese Bewegung, entscheidend ist, um das Becken aufzulockern, werden die Isis gerne dafür ausgebildet. Es werden z.B. Autisten, Kinder mit Spastik (mehr oder weniger gehfähig bis rollstuhlpflichtig) und Wahrnehmungs- beziehungsweise Koordinationsstörungen behandelt. Kaffl-Brauckmann erklärt: „Gerade bei den Kindern mit Spastik in den Beinen ist die dreidimensionale Bewegung gut, um das Becken zu entspannen und die Spastik „lockerer" zu machen, damit die Kinder gut und aufrecht im Rollstuhl sitzen können."
Nach dem fröhlichen Kennenlernen geht es ans Putzen von Gustur. Rücken, Bauch, Schultern und natürlich die Hufe. Ein Kind darf beginnen und einen Huf auskratzen und dann an das nächste weitergeben. Natürlich alles mit Hilfe der Betreuer und Therapeutinnen. Dies gehört nicht zu der eigentlichen Therapie, wird von Hesse und Kaffl-Brauckmann aber trotzdem gerne mit eingebunden, um ein Gespür für das lebendige Tier zu bekommen. Danach wird entschieden, welches Kind anfängt, denn die Therapieeinheit wird für jeden individuell gestaltet. Reiten oder nur führen. Mit oder ohne Reitpad. Jedes kleinste Detail macht einen Unterschied.
Die Hippotherapie findet in einer etwas ruhigeren Ecke des Hofes statt, wo sie ungestört mit den Kindern sind. Es wird in einer runden Halle, einem sogenannten Roundpen gearbeitet. Dieser ist aus Holz und mit einem Dach wie bei einem Zirkuszelt. Direkt daneben befindet sich auch noch ein offener Reitplatz sowie ein Trampelpfad um die anliegenden Koppeln, wo die Therapeutinnen auch mal mit den Kindern ausreiten gehen.
Durch eine Pferdeführerin, eine dem Pferd vertraute Person, die besonders im Setting der Hippotherapie wichtig ist, wird die Therapieeinheit unterstützt. Sie führt das Pferd und gibt nach Absprache Kommandos zum Anhalten und Losgehen, damit sich die Therapeuten voll und ganz auf den Patienten konzentrieren können. Die Pferde müssen da auf ganz feine Hilfen reagieren und werden extra speziell ausgebildet und trainiert.
Während ein Kind an der Reihe ist, warten die anderen in dem gemütlichen Bauwagen, schauen zu oder erkunden mit den Betreuerinnen den Hof. Wie schon erwähnt, ist jede Einheit individuell angepasst, denn auch das Auf- und Absteigen ist wichtig, weil so kontrolliertes Stehen und Gangabläufe trainiert werden. Anhalten und wieder losgehen ist ebenso wichtig, weshalb es eigene Sprachkommandos gibt, die mit den Kindern gemeinsam angesagt werden. Die Übungen, die sie mit den Kindern machen, sind z.B. eine Runde lang die Augen zu schließen, eine Runde mit geschlossenem Mund reiten oder im Halten auf den Rücken legen. Diese Übungen mögen für Außenstehende vielleicht unscheinbar wirken, sind aber für viele Kinder eine große Überwindung. Deshalb passen Gusti und Rösti gut auf und gehen jeden Schritt mit Bedacht, aber nicht langsam. Lise erzählt: „Sie gehen meist 100-120 Schritte pro Minute."
Die Kosten für die Hippotherapie sind sehr hoch, unter anderem, weil der Unterhalt für die Pferde gesichert sein muss. Leider wird die Therapie in Deutschland nicht von den Krankenkassen übernommen. In der Schweiz und in Dänemark allerdings schon. Das liegt daran, dass im deutschen System die Hippotherapie in die Wellnesskategorie gefallen ist und diese nicht mehr wechseln kann.
Am Ende der Einheit darf sich jedes Kind ganz persönlich im Rahmen seiner Möglichkeiten mit einem wohlverdienten Leckerli bei Gusti verabschieden. Man hört nur noch das freudige Kauen und Schmatzen. Unter fröhlichem Schnauben ertönt jetzt ein Brummen des Motors und ein Quietschen der Reifen, die langsam vom Hof fahren. Bis nächste Woche!
Während des Schreibprozesses ist das Therapiepferd Rösti, aufgrund einer unerwarteten Kolik, leider verstorben. Dies ist natürlich ein Riesenverlust für die Hippotherapie. Aus diesem Grund widme ich ihr diese Reportage!
Quelle: https://www.dgh-ev.com/verein/hippotherapie
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